Hab 1

Dieses kleine Buch weist eine klare Struktur auf: Auf zwei Klagen des Propheten (1,2-4.12-17) folgen zwei göttliche Antworten (1,5-11; 2,1-5). Die zweite Antwort mündet in fünf Wehe-Rufe aus (2,6-20). Das abschließende »Gebet Habakuks« (Kap. 3) stellt die hymnische Schilderung der Gotteserscheinung dar, auf die der Prophet klagend und hoffend wartet. Dieser Schluss gehört unabdingbar zum Buch, auch wenn er als Gebet der Gemeinde verwendet wurde und in V. 17 einen nachträglichen Einschub erhielt. Der rhetorische Stil mit seiner eindrucksvollen Bildersprache macht das Buch zu einer Perle der prophetischen Literatur.

Die Erwähnung der Chaldäer, d. h. der Träger des Neubabylonischen Reichs (1,6), weist auf den historischen Hintergrund des Buches hin: die heraufkommende Chaldäergefahr vor 598 v. Chr. Der Prophet, von dem sonst nichts bekannt ist - Dan 14,33-39 passt nicht auf ihn -, beklagt zunächst den schlimmen Zustand des Gottesvolkes, wohl unter König Jojakim (609-598 v. Chr.), und erhält zur Antwort, die Chaldäer kämen deshalb als Strafwerkzeug Gottes über Israel (vgl. auch 1,12). Nach der Klage über die Grausamkeit des Feindes deckt Gott das Geheimnis seines Geschichtswaltens auf: Auch durch anscheinend widersprüchliche Geschichtsabläufe hindurch garantiert er den endgültigen Sieg von Recht und Gerechtigkeit über Habsucht, Ausbeutung, Gewalttat und Götzendienst. Das gilt gerade auch auf der Ebene der Völkergeschichte. Die Verkündigung des Propheten gipfelt in der Gottesaussage: »Der Gerechte bleibt wegen seiner Treue am Leben« (2,4); gemeint ist die Treue im tätigen Glauben. Diese Zusage hat durch Paulus (Röm 1,17; Gal 3,11) besondere Bedeutung gewonnen (vgl. auch Hebr 10,38).

Überschrift: 1,1

1 Ausspruch, den der Prophet Habakuk in einer Vision hörte.

Der Dialog des Propheten mit Gott: 1,2 - 2,5

Die Klage des Propheten: 1,2-4

2 Wie lange, Herr, soll ich noch rufen /
 
und du hörst nicht? Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! /
 
Aber du hilfst nicht. 1

3 Warum lässt du mich die Macht des Bösen erleben /
 
und siehst der Unterdrückung zu? Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, /
 
erhebt sich Zwietracht und Streit. 2

4 Darum ist das Gesetz ohne Kraft /
 
und das Recht setzt sich gar nicht mehr durch. Die Bösen umstellen den Gerechten /
 
und so wird das Recht verdreht.

Die Antwort Gottes: 1,5-11

5 Seht auf die Völker, schaut hin, /
 
staunt und erstarrt! Denn ich vollbringe in euren Tagen eine Tat - /
 
würde man euch davon erzählen, ihr glaubtet es nicht.

6 Denn seht, ich stachle die Chaldäer auf, /
 
das grausame, ungestüme Volk, das die Weiten der Erde durchzieht, /
 
um Wohnplätze zu erobern, die ihm nicht gehören,

7 ein furchtbares und schreckliches Volk, /
 
das selbst sein Recht und seinen Rang bestimmt.

8 Seine Pferde sind schneller als Panther, /
 
wilder als die Wölfe der Steppe. Seine Rosse und Reiter stürmen heran, /
 
sie kommen aus der Ferne, sie fliegen herbei wie ein Geier, /
 
der sich auf seinen Fraß stürzt. 34

9 Sie rücken an, entschlossen zu roher Gewalt, /
 
alle Gesichter vorwärts gerichtet. /
 
Gefangene raffen sie zusammen wie Sand.

10 Sie machen sich sogar über Könige lustig /
 
und lachen über mächtige Fürsten; ja, sie spotten über jede Festung, /
 
sie schütten einen Erdwall auf und nehmen sie ein.

11 Dann ziehen sie weiter, /
 
wie der Sturmwind sausen sie dahin. Doch sie werden es büßen, /
 
denn sie haben ihre Kraft zu ihrem Gott gemacht. 5

Erneute Klage des Propheten: 1,12-17

12 Herr, bist nicht du von Ewigkeit her mein heiliger Gott? /
 
Wir wollen nicht sterben. Herr, du hast sie doch nur dazu gerufen, /
 
an uns das Gericht zu vollziehen: Du, unser Fels, du hast sie dazu bestimmt, /
 
uns zu bestrafen. 6

13 Deine Augen sind zu rein, um Böses mit anzusehen, /
 
du kannst der Unterdrückung nicht zusehen. Warum siehst du also den Treulosen zu und schweigst, /
 
wenn der Ruchlose den Gerechten verschlingt?

14 Warum behandelst du die Menschen /
 
wie die Fische im Meer, /
 
wie das Gewürm, das keinen Herrn hat? 7

15 Mit der Angel holt er sie alle herauf, /
 
er schleppt sie weg in seinem Netz und rafft sie fort in seinem Fischgarn; /
 
er freut sich darüber und jubelt.

16 Deshalb opfert er seinem Netz /
 
und bringt seinem Fischgarn Rauchopfer dar; denn durch sie hat er reichen Gewinn /
 
und ein üppiges Mahl. 8

17 Darum zückt er unablässig sein Schwert, /
 
um ohne Erbarmen die Völker zu morden. 9

1 ℘ Ijob 19,7
2 ℘ Ps 55,10-12; Am 3,9f
3 ℘ Zef 3,3
4 8b: Nach G; H: Wölfe am Abend.
5 ℘ Jes 10,13
6 ℘ Dtn 33,27; Ps 90,1f
7 ℘ Ez 29,4f
8 Vgl. V. 11. Der Feind vergöttert seine Machtmittel.
9 17a: Nach dem Qumran-Text.