Jes 1

Die Bücher der Propheten

Der Prophet Jesaja aus Jerusalem (etwa 740-701 v. Chr.) hat mit seiner Verkündigung den Grundstock des Buches geschaffen, das seinen Namen trägt. Aus dem Inhalt der von ihm überlieferten Prophetenworte schließt man, dass er, im Todesjahr des Königs Usija (739 v. Chr.) berufen (Kap. 6), in vier wichtigen Perioden der Geschichte Judas das Wort Jahwes verkündete. Zunächst befasste er sich in Drohworten (Kap. 1 - 3 und 5) mit den Zuständen in Juda und Jerusalem. Im Syrischefraimitischen Krieg (734/33 v. Chr.) warnte er vor einem Bündnis mit Assur (7,1 - 9,6). Beim ersten Versuch des Königs Hiskija, sich an einem Aufstand gegen die Assyrer zu beteiligen (716-711 v. Chr.), erhob er warnend seine Stimme (Kap. 18; 20; 28 - 30; auch Teile von Kap. 14). Endlich trat er beim Angriff des assyrischen Königs Sanherib (um 701 v. Chr.) auf, um das rettende Eingreifen Gottes gegen den überheblichen Feind anzusagen (Worte in den Kapiteln 10; 14; 28 - 30).

Vom Leben des Propheten ist uns wenig bekannt. Er dürfte den gebildeten höheren Kreisen entstammen; anscheinend war er mit einer prophetisch begabten Frau verheiratet (8,3) und hatte wohl mehrere Kinder (vgl. 7,3; 8,1-3). Die Worte Jesajas, die in Kap. 1 - 39 überliefert sind, wurden von seinen Schülern (8,16) und anderen vielfach kommentiert und beträchtlich erweitert; so wurden sie später in seinem Geist an jeweils neue Situationen angepasst. Dem Propheten kam es vor allem darauf an, die Menschen zu Glauben und Vertrauen gegenüber dem heiligen und erhabenen Gott aufzurufen, der nach seinem weisen Plan die Weltgeschichte und besonders die Geschicke seines Volkes lenkt. Dieses gläubige Hinschauen auf den Herrn bedeutet zugleich, seinem Willen zu entsprechen im politischen wie im sozialen Handeln, insbesondere den Armen gegenüber. Der Ernst der prophetischen Botschaft Jesajas drückt sich vor allem in den scharfen Gerichtsworten aus.

Verschiedene Überschriften (1,1; 2,1; 13,1) weisen darauf hin, dass der erste Teil des Buches (Kap. 1 - 39) eine lange Entstehungsgeschichte hat. Noch heute ist ihm anzusehen, dass einer ersten Sammlung (Kap. 2 - 5 und 9,6 - 11,16) die sogenannte Denkschrift des Propheten (6,1 - 9,5) eingefügt und schließlich Kap. 1 als eine Art Zusammenfassung seiner Worte vorausgestellt wurde. Jes 24 - 27 sind apokalyptische Texte (die sog. »große JesajaApokalypse«) und tragen das Kolorit einer späten Zeit an sich. Die Jesajaerzählungen (Kap. 36 - 39) sind fast ganz aus dem zweiten Königsbuch übernommen. So entstand ein Prophetenbuch, das wie bei der Denkschrift in großen Zügen das Grundschema erkennen lässt, nach dem die prophetischen Bücher zusammengestellt wurden: Drohungen gegen das eigene Volk (Kap. 1 - 12); Drohungen gegen andere Völker (Kap. 13 23); Verheißungen, die hier allerdings Drohreden einschließen, für das eigene Volk (Kap. 24 - 35); ein geschichtlicher Anhang rundet das Ganze ab (Kap. 36 - 39). Für das Neue Testament und die christliche Verkündigung sind in besonderer Weise die messianischen Texte wichtig (Kap. 7; 9,1-6; 11; 28,16f).

In eine ganz andere Welt versetzen uns die Kapitel 40 - 55. Hier befindet sich Juda im Babylonischen Exil; zu ihm spricht ein Prophet, der den Auftrag erhält (40,1-11), das unmittelbar bevorstehende rettende Eingreifen Gottes anzukündigen. Gott erweckt Kyrus (44,28 - 45,8), damit er das Volk aus der Gefangenschaft entlässt. Dann wird Jahwe, der als der alleinige durch Schöpfung und geschichtliches Handeln ausgewiesene Gott über die Völker herrscht, sein Volk in einem neuen, wunderbaren Exodus nach Zion heimführen. Dort wird er als König Israels herrschen, das er wieder aufblühen lässt. In diese überschwängliche Heilsprophetie sind vier Texte über den »Gottesknecht« eingefügt (42,1-9; 49,1-9; 50,4-9; 52,13 - 53,12), der als der Erwählte Jahwes zum »Bund des Volkes und Licht der Heiden« bestimmt, wie ein Prophet gesendet, mit Aufgaben für Israel und die Völker betraut, nach Leiden und Todesnot errettet und schließlich verherrlicht wird. Durch die sogenannten Gottesknechttexte hat dieser Teil des Jesajabuches weit in die Zukunft gewirkt. Die neutestamentliche Urgemeinde nahm sie auf und sah sie im Wirken und im Weg Jesu erfüllt. Der Verfasser von Jes 40 - 55 ist unbekannt. Man nennt ihn Deuterojesaja (Zweiter Jesaja).

In Jes 56 - 66 wechselt die Situation wieder. Hier sind verschiedenartige Texte zusammengestellt, die sich an die Heimgekehrten richten. Sie schöpfen vielfach aus Jes 40 - 55, sprechen aber deutlich die veränderte Lage an. Ein Prophet erhebt seine Stimme (Kap. 60 - 62), der sich durch Gottes Geist zur Verkündigung einer frohen Botschaft gesandt weiß (Kap. 61; vgl. Lk 4,16-19); man nennt ihn Tritojesaja (Dritter Jesaja). Dieser Teil des Jesajabuches enthält in loser Anordnung Heils- und Gerichtsworte. Besonders hervorzuheben sind die Verheißung für die Fremden (56,1-8), die Mahnung zur wahren Frömmigkeit (58,1-14), das leuchtende Bild von der Gottesstadt (Kap. 60 und 62), das Gebet zu Gott, unserem Vater, in Gestalt einer Volksklage (63,7 - 64,11). Mit dem Blick auf den neuen Himmel und die neue Erde (Kap. 66) schließt das Jesajabuch.

Unter den Funden von Qumran befand sich eine vollständig erhaltene Jesaja-Handschrift aus dem 2. Jahrhundert v. Chr. Sie ist damit etwa tausend Jahre älter als die meisten bisher bekannten hebräischen Handschriften des Alten Testaments.

I. Teil Der erste Jesaja (Protojesaja): 1,1 - 39,8

Worte über Juda und Jerusalem aus der Frühzeit des Propheten: 1,1 - 12,6

Einleitung: 1,1

1 Vision des Jesaja, des Sohnes des Amoz, über Juda und Jerusalem, die er zu der Zeit hatte, als Usija, Jotam, Ahas und Hiskija Könige von Juda waren. 12

Die Untreue des Volkes: 1,2-4

2 Hört, ihr Himmel! Erde, horch auf! /
 
Denn der Herr spricht: Ich habe Söhne großgezogen und emporgebracht, /
 
doch sie sind von mir abgefallen. 34

3 Der Ochse kennt seinen Besitzer /
 
und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, /
 
mein Volk hat keine Einsicht. 5

4 Weh dem sündigen Volk, der schuldbeladenen Nation, /
 
der Brut von Verbrechern, den verkommenen Söhnen! Sie haben den Herrn verlassen, /
 
den Heiligen Israels haben sie verschmäht /
 
und ihm den Rücken gekehrt. 67

Die Folgen der Sünde: 1,5-9

5 Wohin soll man euch noch schlagen? /
 
Ihr bleibt ja doch abtrünnig. Der ganze Kopf ist wund, /
 
das ganze Herz ist krank:

6 Vom Kopf bis zum Fuß kein heiler Fleck, /
 
nur Beulen, Striemen und frische Wunden, sie sind nicht ausgedrückt, nicht verbunden, /
 
nicht mit Öl gelindert.

7 Euer Land ist verödet, /
 
eure Städte sind niedergebrannt. Fremde verzehren vor euren Augen den Ertrag eurer Äcker; /
 
verödet wie das zerstörte Sodom ist euer Land. 8

8 Die Tochter Zion steht verlassen da /
 
wie eine Hütte im Weinberg, wie eine Wächterhütte im Gurkenfeld /
 
[wie eine belagerte Stadt]. 9

9 Hätte der Herr der Heere nicht einen Rest für uns übrig gelassen, /
 
wir wären wie Sodom geworden, /
 
wir glichen Gomorra. 10

Der falsche und der wahre Gottesdienst: 1,10-17

10 Hört das Wort des Herrn, ihr Herrscher von Sodom! /
 
Vernimm die Weisung unseres Gottes, du Volk von Gomorra! 11

11 Was soll ich mit euren vielen Schlachtopfern?, /
 
spricht der Herr. Die Widder, die ihr als Opfer verbrennt, /
 
und das Fett eurer Rinder habe ich satt; /
 
das Blut der Stiere, der Lämmer und Böcke ist mir zuwider. 12

12 Wenn ihr kommt, um mein Angesicht zu schauen - /
 
wer hat von euch verlangt, dass ihr meine Vorhöfe zertrampelt?

13 Bringt mir nicht länger sinnlose Gaben, /
 
Rauchopfer, die mir ein Gräuel sind. Neumond und Sabbat und Festversammlung - /
 
Frevel und Feste - ertrage ich nicht.

14 Eure Neumondfeste und Feiertage /
 
sind mir in der Seele verhasst, sie sind mir zur Last geworden, /
 
ich bin es müde, sie zu ertragen.

15 Wenn ihr eure Hände ausbreitet, /
 
verhülle ich meine Augen vor euch. Wenn ihr auch noch so viel betet, /
 
ich höre es nicht. /
 
Eure Hände sind voller Blut.

16 Wascht euch, reinigt euch! /
 
Lasst ab von eurem üblen Treiben! /
 
Hört auf, vor meinen Augen Böses zu tun!

17 Lernt, Gutes zu tun! /
 
Sorgt für das Recht! Helft den Unterdrückten! /
 
Verschafft den Waisen Recht, /
 
tretet ein für die Witwen! 1314

Der Rechtsstreit Gottes mit seinem Volk: 1,18-20

18 Kommt her, wir wollen sehen, /
 
wer von uns Recht hat, /
 
spricht der Herr. Wären eure Sünden auch rot wie Scharlach, /
 
sie sollen weiß werden wie Schnee. Wären sie rot wie Purpur, /
 
sie sollen weiß werden wie Wolle.

19 Wenn ihr bereit seid zu hören, /
 
sollt ihr den Ertrag des Landes genießen.

20 Wenn ihr aber trotzig seid und euch weigert, /
 
werdet ihr vom Schwert gefressen. /
 
Ja, der Mund des Herrn hat gesprochen.

Das Gericht über Jerusalem: 1,21-31

21 Ach, sie ist zur Dirne geworden, die treue Stadt. /
 
Einst war dort das Recht in voller Geltung, die Gerechtigkeit war dort zu Hause, /
 
jetzt aber herrschen die Mörder.

22 Dein Silber wurde zu Schlacke, /
 
dein Wein ist verwässert. 15

23 Deine Fürsten sind Aufrührer /
 
und eine Bande von Dieben, alle lassen sich gerne bestechen /
 
und jagen Geschenken nach. Sie verschaffen den Waisen kein Recht, /
 
die Sache der Witwen gelangt nicht vor sie.

24 Darum - Spruch Gottes, des Herrn der Heere, /
 
des Starken Israels: Weh meinen Gegnern, /
 
ich will Rache nehmen an ihnen, /
 
mich rächen an meinen Feinden. 16

25 Ich will meine Hand gegen dich wenden, /
 
deine Schlacken will ich mit Lauge ausschmelzen, /
 
all dein Blei schmelze ich aus. 17

26 Ich will dir wieder Richter geben wie am Anfang /
 
und Ratsherrn wie zu Beginn. Dann wird man dich die Burg der Gerechtigkeit nennen, /
 
die treue Stadt.

27 Zion wird durch das Recht gerettet, /
 
wer dort umkehrt, durch die Gerechtigkeit.

28 Doch alle Abtrünnigen und Sünder werden zerschmettert. /
 
Wer den Herrn verlässt, wird vernichtet.

29 Ihr werdet in Schande stürzen /
 
wegen der Eichen, die euch gefallen, und werdet euch schämen /
 
wegen der (heiligen) Haine, die ihr so gern habt. 1819

30 Ihr werdet wie eine Eiche, deren Blätter verwelken, /
 
und wie ein Garten, dessen Wasser versiegt ist.

31 Dann wird der Starke zu Werg /
 
und sein Tun zum zündenden Funken; beide verbrennen zusammen /
 
und niemand kann löschen.

1 ℘ Mi 1,1
2 Die Überschrift hat wohl ursprünglich Jes 1 - 12 eingeleitet.
3 ℘ 23,4
4 2-31: Die Einleitungsrede bietet wie eine vorangestellte Zusammenfassung wichtige Themen der Verkündigung des Propheten.
5 ℘ Lk 2,16
6 ℘ 30,9
7 Der «Heilige Israels» ist in Jes Bezeichnung für Jahwe, den heiligen Gott (vgl. 6,3).
8 Sodom: Text korr. nach V. 9.
9 ℘ 24,20
10 ℘ Gen 19,1-29
11 Angeredet ist die Stadt Jerusalem.
12 ℘ Am 5,21-23
13 ℘ Am 5,24
14 den Unterdrückten: Text korr. nach den alten Übersetzungen.
15 ℘ Ez 22,18
16 Der «Starke Israels» ist Bezeichnung für Jahwe (vgl. «der Starke Jakobs» Gen 49,24).
17 ℘ Ez 22,18f; Mal 3,3; Spr 25,4
18 ℘ 65,3
19 Heidnische Kultbräuche werden oft bei heiligen Bäumen vollzogen (vgl. Jer 2,20; Hos 4,13). - Ihr werdet: Text korr. nach H-Handschriften und der aramäischen Übersetzung.