Mi 1

In seiner jetzigen Gestalt hat das Buch Micha mit seinen sieben Kapiteln insofern einen durchsichtigen Aufbau, als zweimal auf Gerichtsankündigungen (Kap. 1 - 3 und 6,1 - 7,7) Heilsaussagen folgen (4,1 - 5,14 und 7,8-20). Nach heute vorherrschender Auffassung ist diese Gestalt des Buches erst das Ergebnis einer mit Einschüben und Zusätzen arbeitenden Redaktion. In der Bestimmung der echten Michatexte gehen die Meinungen allerdings auseinander. Kap. 1 - 3 sind mit Ausnahme von 2,12f sicher Micha zuzuschreiben. In Kap. 4 - 7 stammen 4,1-5 (= Jes 2,2-5); 5,6-8 und 7,8-20 mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Micha. Von den übrigen Texten stammt 4,14 - 5,5 (»Der messianische Herrscher«) mit Ausnahme von 4b.5a mit großer Wahrscheinlichkeit von Micha; dasselbe gilt für 5,9-14 und 6,1 - 7,7.

Da 1,2-7 gegen Samaria gesprochen ist, hat Micha seine Tätigkeit vor dem Untergang Samarias im Jahr 722 v. Chr. begonnen. Dafür spricht auch die Überschrift in 1,1. Die Klage über Juda in 1,8-16, deren Text schlecht erhalten ist, hat wohl die Ereignisse von 701 v. Chr., den Einfall des Assyrers Sanherib, zum Hintergrund. Jer 26,17-19 bezeugt, dass Micha unter König Hiskija (etwa 728-699 v. Chr.) den Untergang Jerusalems und des Tempels (vgl. 3,12) angekündigt hat. Micha ist also ein jüngerer Zeitgenosse Jesajas.

Der Prophet stammt aus Moreschet-Gat südwestlich von Jerusalem und gehört augenscheinlich zur dortigen Bauernschaft. Seiner Herkunft nach ist er also mit Amos vergleichbar. Auch in seiner Verkündigung steht er dem Propheten aus Tekoa nahe. Er klagt durchweg die Oberschicht von Jerusalem und Juda an und zeiht sie des Rechtsbruchs (3,1 - 4.9-12) und auch der Besitzgier (2,1-3.6-11). Den Propheten und Priestern wirft er Bestechlichkeit vor (3,5-8). Die beklagten Zustände fordern das Gericht Gottes heraus. Dieses wird selbst den Tempel nicht verschonen (3,12). Aus der Kritik am Jerusalemer Königtum ist wohl der Rückgriff auf die Erwartung eines neuen »David aus Betlehem« (5,1-4) zu begreifen, die im Neuen Testament in Mt 2,6 (vgl. Joh 7,42) als in Jesus erfüllt verkündigt wird. In 6,8 wird in lapidarer Kürze die ideale Partnerschaft mit Gott gekennzeichnet als »Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott«. Hier wird die Weisung der Zehn Gebote und der Propheten Amos, Hosea und Jesaja zu einem großartigen Vermächtnis auch an das neue Gottesvolk zusammengefasst.

Überschrift: 1,1

1 Das Wort des Herrn, das an Micha aus Moreschet erging in der Zeit, als Jotam, Ahas und Hiskija Könige von Juda waren; er hörte es in Visionen über Samaria und Jerusalem.

Die Drohreden: 1,2 - 3,12

Gegen Samaria: 1,2-7

2 Hört, alle ihr Völker, /
 
horch auf, Erde, und alles, was sie erfüllt: Gott, der Herr, tritt als Zeuge gegen euch auf, /
 
der Herr tritt heraus aus seinem heiligen Palast. 1

3 Seht, der Herr verlässt seinen erhabenen Ort, /
 
er steigt herab und schreitet dahin /
 
über die Höhen der Erde. 2

4 Die Berge zerschmelzen unter ihm /
 
wie Wachs in der Hitze des Feuers; die Talgründe werden aufgerissen, /
 
wie wenn Wasser den Abhang herabstürzt. 3

5 Das alles geschieht wegen Jakobs Vergehen /
 
und wegen der Sünde des Hauses Israel. Was ist Jakobs Vergehen? /
 
Ist es nicht Samaria? Und was ist die Sünde Judas? /
 
Ist es nicht Jerusalem?

6 Darum mache ich Samaria zu einem Trümmerfeld, /
 
zu einem Acker, auf dem man Reben pflanzt. Ich stürze seine Steine zu Tal /
 
und lege seine Grundmauern bloß. 4

7 Alle seine geschnitzten Bilder werden zerschlagen, /
 
alle seine Weihegaben im Feuer verbrannt, /
 
alle seine Götzen zerstöre ich. Denn mit Dirnenlohn wurden sie zusammengekauft /
 
und zu Dirnenlohn werden sie wieder. 5

Die Klage des Propheten: 1,8-16

8 Klagen muss ich und jammern, /
 
barfuß und nackt gehe ich umher; ich erhebe ein Geheul wie die Schakale, /
 
ein Klagegeschrei wie die Strauße. 6

9 Denn unheilbar ist die Wunde meines Volkes; /
 
sie reicht bis nach Juda, bis zum Tor meines Volkes, /
 
bis hin nach Jerusalem.

10 Meldet es nicht in Gat! /
 
Weint nicht in Akko! /
 
Wälzt euch im Staub in Bet-Leafra! 7

11 Zieht fort, ihr Bewohner von Schafir! /
 
Die Einwohner Zaanans sind schändlich entblößt /
 
und können ihre Stadt nicht verlassen. Es klagt Bet-Ezel. /
 
Er nimmt euch jede Stütze weg.

12 Ja, die Einwohner von Marot bangen um ihr Wohl; /
 
denn vom Herrn kam Unheil herab /
 
auf Jerusalems Tore.

13 Spannt die Pferde vor die Wagen, /
 
ihr Einwohner von Lachisch! Ja, das war der Anfang der Sünde der Tochter Zion; /
 
denn in dir trat die Gottlosigkeit Israels zutage. 8

14 Darum musst du dich trennen von Moreschet-Gat. /
 
Die Häuser von Achsib werden für Israels Könige eine große Enttäuschung.

15 Wieder soll der Eroberer über euch herfallen, /
 
ihr Einwohner von Marescha; /
 
bis nach Adullam bringt man die Herrlichkeit Israels. 9

16 Scher dich kahl, Tochter Zion, /
 
trauere über deine geliebten Kinder! Scher dir eine Glatze, /
 
so kahl wie die eines Geiers; /
 
denn man hat deine Kinder verschleppt. 10

1 ℘ Ps 49,2
2 ℘ Jes 26,21; Am 4,13
3 ℘ Ps 97,5
4 ℘ 3,12
5 Der Verdienst der Tempeldirnen wurde zur Ausstattung des Heiligtums verwendet.
6 ℘ 2 Sam 15,30; Jes 20,2
7 Der Text von VV. 10-15 ist zum Teil unklar bzw. schlecht überliefert. Die hebräischen Zeitwörter weisen Anklänge an die mit ihnen verbundenen Ortsnamen auf. So kann z. B. Bet-Leafra als «Staubhausen» gedeutet werden.
8 13c: In dieser vielleicht nachträglich eingefügten Bemerkung klingt die verbreitete prophetische Polemik gegen Pferde und Kriegswagen durch.
9 15c: Text unklar. David musste vor Saul in die Höhle Adullam fliehen (vgl. 1 Sam 22,1). Vielleicht soll hier die Flucht des Königs von Jerusalem angesagt werden.
10 ℘ Jer 7,29