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Die Kirche und die Heilige Schrift heute

II. Vatikanisches Konzil: Aus der "Dogmatischen Konstitution über die göttliche Offenbarung"



Aus dem 1. Kapitel:


Über die Offenbarung an sich


Ziel, Wesen und Arten der Offenbarung


(2) Es hat Gott in seiner Güte und Weisheit gefallen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens kundzutun (vgl. Eph 1, 9): Die Menschen sollten durch Christus, das fleischgewordene Wort, im Heiligen Geiste Zutritt haben zum Vater und teilhaftig werden der göttlichen Natur (vgl. Eph 2, 18; 2Petr 1, 4).


So spricht also durch die Offenbarung der unsichtbare Gott (vgl. Kol 1, 15; 1Tim 1, 17) aus seiner überströmenden Liebe heraus die Menschen wie Freunde an (vgl. Ex 33, 11; Joh 15, 14 - 15) und tritt in Verkehr mit ihnen (vgl. Bar 3, 38), um sie zu r Gemeinschaft mit sich einzuladen und sie darin aufzunehmen.


Dieses planvoll angelegte Offenbarungsgeschehen vollzieht sich in Taten und Worten. Beides jedoch ist innerlich miteinander verknüpft: Die Werke, die Gott im Verlauf der Heilsgeschichte vollbringt, verdeutlichen und erhärten die Unterweisung und die in Worte gefaßten Gegebenheiten. Die Worte ihrerseits weisen wieder eindringlich auf die Werke hin und stellen das in ihnen enthaltene Geheimnis ins Licht.


Die letzte Tiefe der Wahrheit jedoch, die durch diese Offenbarung über Gott und das Heil des Menschen erschlossen ist, leuchtet uns auf in Christus, der Mittler und Fülle der ganzen Offenbarung zugleich ist.



Das Ankommen der Offenbarung im Glauben


(5) Dem offenbarenden Gott ist der Gehorsam des Glaubens (Röm 16, 26; Röm 1, 5§ 2Kor 10, 5f) zu leisten. Darin überantwortet der Mensch als ganzer sich in Freiheit Gott, indem er sich dem offenbarenden Gott mit Verstand und Willen völlig unterwirft und willig der von ihm gegebenen Offenbarung zustimmt...



Der Inhalt der Offenbarung


(6) Durch die göttliche Offenbarung hat Gott sich selbst, sowie die ewigen Entscheidungen seines Willens, die das Heil der Menschen betreffen, kundtun und mitteilen wollen, um Anteil zu geben an göttlichen Gütern, die die Fassungskraft des menschlichen Geistes schlechthin übersteigen...






Aus dem 3. Kapitel:


Über die göttliche Inspiration und die Auslegung der Heiligen Schrift



Tatsache , Wesen und Wirkung der Inspiration


(11) Das von Gott Geoffenbarte, das in der Heiligen Schrift enthalten ist und vorliegt, ist aufgezeichnet worden unter dem Anhauch des Heiligen Geistes.


Denn auf Grund apostolischen Glaubens betrachtet die heilige Mutter Kirche die Bücher sowohl des Alten wie des Neuen Testamentes in ihrer Gesamtheit und mit allen ihren Teilen deshalb als heilig und kanonisch, weil sie unter Einwirkung des Heiligen Geistes geschrieben (vgl. Joh 20, 31; 2Tim 3, 16; 1Petr 1, 19 - 21; 1Petr 3, 15 - 16), Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche anvertraut sind.


Zur Abfassung der heiligen Bücher hat Gott freilich Menschen erwählt. Er hat sich ihrer, die ihre eigenen Fähigkeiten und Kräfte gebrauchten, bedient, so daß sie all das und nur das, was er selbst - in ihnen und durch sie handelnd - geschrieben haben wollte, als echte Verfasser schriftlich niederlegten.


Da also alles, was die inspirierten Verfasser oder biblischen Schriftsteller aussagen, als vom Heiligen Geist ausgesagt zu gelten hat, ist von den Büchern der Schrift zu bekennen, daß sie sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in den heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte. Daher ist jede von Gott inspirierte Schrift auch nützlich zur Belehrung, zur Beweisführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Gott gehörige Mensch bereit sei, wohlgerüstet zu jedem guten Werk (2Tim 3, 16 - 17).



Grundsätze für die Erschließung des wahren Schriftsinnes


(12) Da nun aber Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns hat mitteilen wollen, sorgfältig erforschen, was wirklich die biblischen Schriftsteller auszusagen beabsichtigten, und was Gott durch ihre Worte kundtun wollte.


Um die Aussageabsicht der biblischen Schriftsteller zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn auf jeweils andere Weise wird eine Wahrheit dargestellt oder ausgedrückt in Texten von in verschiedenem Sinn geschichtlicher oder prophetischer oder poetischer Art oder in anderen Redegattungen.


Weiter hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der biblische Schriftsteller den Bedingungen seiner Zeit und seiner Kultur entsprechend - durch das Medium der damals üblichen literarischen Gattungen - hat ausdrücken wollen und auch wirklich ausgedrückt hat.


Um nämlich richtig verstehen zu können, was der biblische Verfasser in seiner Schrift hat aussagen wollen, muß man einmal genau achten auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprech-, und Erzählformen, die zur Zeit des Verfassers gang und gäbe waren, wie auch auf die Formen, die damals im gewöhnlichen Umgang der Menschen miteinander üblich waren...



Die Herablassung Gottes in der Heiligen Schrift


(13) In der Heiligen Schrift tritt also - unbeschadet der Wahrheit und Heiligkeit Gottes - eine wunderbare Herablassung der ewigen Weisheit zutrage, damit wir die unsagbare Leutseligkeit Gottes kennen lernen und zugleich erfahren sollten, wie sehr er sich aus Vorsorge und Fürsorge für unser Geschlecht in seinem Wort zu uns herabgelassen hat.


Denn Gottes Worte, in menschlicher Sprache artikuliert, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des Wort des ewigen Vaters durch die Annahme menschlich-schwachen Fleisches den Menschen ähnlich geworden ist.






Aus dem 4. Kapitel


Über das Alte Testament



Unvergängliches Zeugnis der Heilsgeschichte


(14) Gott hat in seiner großen Liebe das Heil des ganzen Menschengeschlechtes mit unablässiger Sorge verfolgt und vorbereitet, indem er sich in einzigartiger Planung ein Volk erwählt hat, um ihm die Verheißungen anzuvertrauen.


Er hat mit Abraham (vgl. Gen 15, 18) und durch Mose mit dem Volke Israel einen Bund geschlossen und sich seinem Eigentumsvolk als den einzigen wahren und lebenden Gott in Wort und Tat geoffenbart. So sollte Israel an sich erfahren, welches die Wege Gottes mit den Menschen waren. Es sollte diese Wege dann immer tiefer und klarer erkennen und sie in wachsender Weite unter den Völkern sichtbar werden lassen (vgl. Ps 22, 28 - 29; Ps 96, 1 - 3; Jes 2, 1 - 4; Jer 3, 17).


Die von den biblischen Verfassern vorausverkündete, erzählte und gedeutete Heilsgeschichte aber liegt als wahres Wort Gottes in den Büchern des Alten Testamentes vor. Deshalb behalten diese von Gott inspirierten Schriften unvergänglichen Wert: Alles nämlich, was geschrieben steht, ist zu unserer Unterweisung geschrieben, damit wir aus den Schriften Geduld und Trost schöpfen können und die Hoffnung bewahren (Röm 15, 4).



Sein bleibender und allgemein gültiger Wert


(15) Im Alten Testament war der Geschichtsplan vor allem darauf angelegt, das Kommen Christi, des Welterlösers, und seines messianischen Reiches vorzubereiten, prophetisch anzukündigen (vgl. Lk 24, 44; Joh 5, 39; 1Petr 1, 10) und durch mannigfache Vorbilder anzuzeigen (vgl. 1Kor 10, 11).


Die Bücher des Alten Testamentes erschließen allen Menschen - entsprechend der Lage, in der sich das Menschengeschlecht vor der Wiederherstellung des Heiles in Christus befand - Wissen über Gott und Mensch und lassen die Art und Weise erkennen, wie der gerechte und barmherzige Gott an den Menschen handelt.


Obgleich diese Bücher auch Unvollkommenes und Zeitbedingtes enthalten, zeigen sie doch deutlich die wahre göttliche Erziehungskunst. Ein lebendiger Sinn für Gott kommt in ihnen zum Ausdruck. Erhabene Lehren über Gott, heilkräftige menschliche Lebensweisheit und wunderbare Gebetsschätze sind in ihnen aufbewahrt. Schließlich ist das Geheimnis unseres Heiles in ihnen verborgen. Deshalb sollen diese Bücher von denen, die an Christus glauben, voll Ehrfurcht angenommen werden.



Das Alte und das Neue Testament


(16) Gott, der Inspirator und Urheber der Bücher beider Testamente, hat es voll Weisheit gefügt, daß der Neue Bund im Alten verschlossen und der Alte im Neuen erschlossen sein sollte. Denn wenn auch Christus in seinem Blute den Neuen Bund gestiftet hat (vgl. Lk 22, 20; 1Kor 11, 25), erlangen und zeigen die Bücher des Alten Testamentes, die als Ganzes in die Verkündigung des Evangeliums aufgenommen worden sind, ihren vollen Sinn erst im Neuen Bund (vgl. Mt 5, 17; Lk 24, 27; Röm 16, 25 - 26; 2Kor 3, 14 - 16), so wie sie umgekehrt auch diesen wiederum beleuchten und verdeutlichen.






Aus dem 6. Kapitel:


Über die Heilige Schrift im Leben der Kirche



Glaubensnorm und Lebenskraft für Kirche und Gläubige


(21) Die Kirche hat die Heiligen Schriften so wie den Leib des Herrn selbst stets hoch verehrt. Vor allem in der heiligen Liturgie nimmt sie immer wieder wie vom Tisch des Leibes Christi so auch vom Tisch des Wortes Gottes das Brot des Lebens und reicht es den Gläubigen dar.


In diesen Schriften hat die Kirche zusammen mit der Überlieferung stets gesehen und sieht: die höchste Richtschnur ihres Glaubens. Denn von Gott inspiriert und ein für allemal schriftlich festgelegt, bieten sie das Wort Gottes selbst unwandelbar dar und lassen in den Worten der Propheten und der Apostel die Stimme des Heiligen Geistes vernehmen.


Wie die christliche Religion selbst, so muß auch die gesamte kirchliche Verkündigung sich von der Heiligen Schrift nähren und sich an ihr ausrichten. In den heiligen Büchern kommt ja der Vater, der im Himmel ist, seinen Kindern in großer Liebe entgegen und nimmt mit ihnen das Gespräch auf. So groß aber ist die Macht und Wirksamkeit, die Gottes Wort innewohnt, daß es für die Kirche Grundpfeiler und Lebenskraft, für die Kinder der Kirche aber Glaubensstärkung, Seelennahrung und reiner, unversieglicher Quell des geistlichen Lebens ist. Darum gelten von der Heiligen Schrift in besonderer Weise die Worte: Lebendig ist Gottes Rede und wirksam (Hebr 4, 12), mächtig, aufzubauen und das Erbe auszuteilen unter allen Geheiligten (Apg 20, 32; 1Thess 2, 13).



Schlußwort: Wunsch und Hoffnung


(26) So möge also durch die Lesung und das Studium der heiligen Bücher das Wort Gottes seinen Lauf nehmen und verherrlicht werden (2Thess 3, 1)! Der Schatz der Offenbarung, der der Kirche anvertraut ist, erfülle mehr und mehr die Herzen der Menschen!


Wie das Leben der Kirche Wachstum erfährt durch die ständige Teilnahme am eucharistischen Geheimnis, so darf man für das geistliche Leben neuen Antrieb erhoffen aus der gesteigerten Verehrung für das Wort Gottes, das bleibt in Ewigkeit (Jes 40, 8; 1Petr 1, 23 - 25).