1Sam 1



Einführung in das erste Buch Samuel





Gottes Gesalbte: Israels Könige



Die biblischen Überlieferungen über das Aufkommen des Königtums in Israel sind zwiespältig. Das ist bereits im Richterbuch zutage getreten (vgl. Ri 8, 22f; Ri 21, 25). In den folgenden Büchern ist daraus ebensowenig Hehl gemacht.



Israel ist kein Volk wie die anderen, sondern Gottes eigenes Volk. Zum Volk geworden durch Gottes Heilstat in der Herausführung aus Ägypten, hat Israel im Heiligtum des Bundesgottes vom Sinai seine einigende Mitte. Für einen König nach dem Vorbild der heidnischen Völker ist darum in Israel kein Platz. Sein Herrscher ist einzig der Herr (vgl. Ri 8, 23), und die Bestellung von Richtern erscheint als die ihm gemäße Form der Ausübung staatlicher und militärischer Macht. Noch Samuel scheint etwas Derartiges, wenn auch als erbliche Einrichtung, anzustreben (vgl. 1Sam 8, 1).



Andererseits läßt aber gerade das Richterbuch durch seine Ausrichtung auf die Königszeit erkennen, weil Gottes Angebot an Israel, sich einzig seiner Herrschaft zu unterstellen, immer wieder scheitert und wie die Notwendigkeit einer starken politischen Spitze für das nunmehr seßhafte Volk sich immer unabweisbarer geltend macht, auch und vor allem zur Abwendung der tödlichen Bedrohung von außen durch die Israel weit überlegenen Philister.



Wohl ist das klägliche Scheitern des ersten Versuches, ein Königtum aufzurichten, den Abimelech unternimmt, ein unübersehbares Warnzeichen - unterstrichen noch durch Jotams Spott-Fabel vom unnützen und gefahrbringenden König (vgl. Ri 9, 1 - 21). Ebenso ist vor allem die Begründung "Wir wollen so sein, wie alle anderen Völker" (vgl. 1Sam 8, 20), mit der das Verlangen, einen König zu haben, ausgesprochen ist, als treulose Absage an Gott selbst empfunden. Und doch lassen die Überlieferungen mehr und mehr erkennen, daß nunmehr das Königtum nicht nur notwendig kommen muß, sondern daß es auch von Gott in seinen Heilsplan mit Israel aufgenommen ist. Freilich, wie so manches andere, das Israel aus seiner heidnischen Umwelt bei sich aufgenommen hat, erfährt nun auch die Einrichtung des Königtums, von der größeren Wirklichkeit des Gottesbundes her, eine radikale Umdeutung und Umprägung.



Der wahre Herrscher in Israel bleibt Gott, der HERR des Heiles. Der König steht unter Gottes Wort, das der Mund der Propheten kündet, und ist gebunden an Gottes Willen, wie er offenbar wird im Gesetz. Wohl ist er Gottes Gesalbter mitten in Gottes Volk, niemals aber Erscheinungsform der Gottheit selbst (wie in der orientalischen Königsideologie). Wohl ist auch er Gottes "Sohn", doch nicht naturhaft, sondern nur angenommen aus Gnaden.



Noch einmal führt der Weg zum Königtum zunächst durch ein Scheitern. Es ist als ob in Saul, dem erste König, zuerst einmal die ganze Widersprüchlichkeit in der Stellung eines Königs in Gottes Bundesvolk sichtbar gemacht werden soll. Saul zerbricht daran, und der dunkle Schatten seiner tragischen Gestalt fällt noch weit in die Königszeit hinein.



Erst als dann mit David, der "Mann nach dem Herzen Gottes" (1Sam 13, 14 u.ö.) erscheint, kann das Wagnis des Neuen gelingen. Trotz aller Schwächen und Mängel ist David der Herrscher, der nach dem Zeugnis der Schrift, beispielhaft und Maßstäbe setzend für alle Zeiten, das Besondere und Einzigartige in Israels Königtum verkörpert. Mit Weitblick und Tatkraft eint er das Volk im Innern, bannt die Feindesgefahr von außen, schafft in Jerusalem nicht nur den neuen politischen, sondern auch den bleibenden religiösen Mittelpunkt und ist bei allem, auch durch Schuld und Versagen hindurch, mit aufrichtigem und ungeteiltem Herzen Gott, dem wahren Herrn über Israel, ergeben.



So wird, trotz aller Zwiespältigkeit in der Beurteilung seiner Anfänge das Königtum Israels nach dem vollen biblischen Zeugnis doch die alles Bisherige abschließende und krönende Heilstat Gottes für Israel. Durch die messianische Verheißung, die David und seinem Hause zuteil wird (vgl. 2Sam 7, 16), prägt Gott dann gerade das irdische Königtum um und macht es zum Weg, der zum wahren "Gesalbten des Herrn" führt, durch den Gottes Königtum über die ganze Welt und über alle Völker seine umfassende und endgültige Verwirklichung finden soll (vgl. Lk 1, 32f).



Dennoch bleibt bestehen - und dies aufzuzeigen mag nicht das letzte Ziel des biblischen Zeugnisses (vor allem in den Königsbüchern) sein - , daß mit dem Aufkommen des Königtums eine gefährliche Gratwanderung für Israel beginnt. Sie kann gelingen - Beweis ist David und der junge Salomo - , dann werden ragende Gipfel erreicht. Sie kann aber auch im Abgrund enden - Beweis ist die darauf folgende Geschichte - , dann erhebt sich in der Rückschau die Frage: War doch nicht alles ein Irrweg?



Nur im Durchstehen dieser fast unerträglichen Spannung findet sich der Schlüssel zum Verständnis des folgenden Abschnitts in der Geschichte Gottes mit Israel, der mit dem Untergang des Königtums und der Zerstörung Jerusalems endet. Ihr vielgestaltiges und vielschichtiges Zeugnis ist in den Samuelbüchern und den anschließenden Königsbüchern enthalten.





Allgemein zu den Samuelbüchern





Die beiden Bücher sind benannt nach Samuel, dem letzten Richter in Israel der die Wende zum Königtum herbeiführt. Sie bilden ursprünglich ein einziges Werk und sind erst später aus Gründen der Handlichkeit in zwei Teile (Rollen) aufgeteilt worden.



Wie alle bisherigen sind auch die Samuelbücher ein Sammelwerk aus sehr unterschiedlichen Bestandteilen. Doch je mehr die Berichte sich Davids Königtum nähern, desto greifbarer wird ihre Nähe zu den geschichtlichen Ereignissen selbst. Man glaubt manchmal einen Augenzeugen reden zu hören, so daß auf weite Strecken das vorliegt, was man heute als "Biographie" bezeichnet. Es ist überdies - auch vom rein literarischen Standpunkt aus - nicht genug zu bewundern, wie hier zum ersten Mal dieser unbekannte Verfasser ursprünglich einander in der Tendenz widerstrebende Stücke meisterhaft zu einem großen, in sich geschlossenen Werk zusammenfügt, in dem der echte Atem großer Geschichtsschreibung weht, und wie er seinem Werk von vornherein in der Verheißung für David und sein Haus die alles bestimmende und erhellende Mitte gibt.

Das erste Buch Samuel

Die letzten Richter: Eli und Samuel

Samuels Eltern

1 Einst lebte ein Mann aus Ramatajim, ein Zufiter vom Gebirge Efraim, namens Elkana, ein Sohn Jerohams, des Sohnes Elihus, des Sohnes Tohus, des Sohnes Zufs, ein Efraimiter.1
2 Er hatte zwei Frauen. Die eine hieß Hanna, die andere Peninna. Peninna hatte Kinder, Hanna aber war kinderlos.23
3 Dieser Mann zog alljährlich von seinem Wohnort hinauf, um in Schilo den Herrn der Heerscharen anzubeten und ihm zu opfern. Die beiden Söhne Elis, Hofni und Pinhas, waren dort Priester des Herrn.45
4 Sooft Elkana das Opfer darbrachte, konnte er seiner Frau Peninna mit all ihren Söhnen und Töchtern mehrere Opferanteile geben,6
5 der Hanna aber, welcher der Herr Kinder versagt hatte, konnte er zu seinem Kummer nur einen Anteil geben, wiewohl er Hanna lieber hatte.7
6 Dazu kränkte ihre Nebenbuhlerin sie, um sie zu reizen, weil der Herr ihr keine Kinder geschenkt hatte.8
7 So ging es Jahr für Jahr. Sooft sie zum Haus des Herrn hinaufzog, kränkte jene sie so sehr, daß sie weinte und nichts aß.
8 Ihr Mann Elkana suchte sie dann zu trösten: "Hanna, warum weinst du? Warum ißt du nichts? Weshalb bist du so betrübt? Bin ich dir nicht mehr wert als zehn Kinder?"9

Hannas Gelübde

9 Als man wieder einmal in Schilo die Opfermahlzeit gehalten und getrunken hatte, stand Hanna auf. Eben saß der Priester Eli auf einem Stuhl an einem der Türpfosten des Heiligtums des Herrn.
10 In tiefer Betrübnis betete sie unter heißen Tränen zum Herrn
11 und gelobte folgendes: "Herr der Heerscharen, wenn du das Elend deiner Magd ansiehst und meiner gedenkst und deine Magd nicht vergißt, sondern deiner Magd einen Sohn schenkst, so will ich ihn für sein ganzes Leben dem Herrn weihen, und kein Schermesser soll auf sein Haupt kommen."1011
12 Wie sie so lange vor dem Herrn betete, beobachtete Eli ihren Mund.
13 Hanna sprach nämlich leise vor sich hin; nur ihre Lippen bewegten sich, ihre Stimme konnte man aber nicht hören. Darum hielt Eli sie für betrunken.
14 Eli fragte sie: "Wie lange bist du noch betrunken? Sieh zu, daß du wieder nüchtern wirst!"
15 Hanna entgegnete: "Ach nein, mein Herr, ich bin eine Frau, deren Geist beschwert ist. Wein und berauschendes Getränk habe ich nicht getrunken, sondern ich habe mein Herz vor dem Herrn ausgeschüttet.
16 Halte deine Magd nicht für eine Tochter Belials! Nur vor lauter Kummer und Gram habe ich so gebetet."12
17 Eli antwortete ihr: "Gehe hin in Frieden! Der Gott Israels wird dir deine Bitte erfüllen, die du an ihn gerichtet hast."
18 Sie erwiderte: "Möge deine Magd Gnade finden in deinen Augen!" Dann ging die Frau ihres Weges und aß und war nicht mehr traurig.

Samuel Geburt und Weihe

19 Nachdem sie am anderen Morgen in der Frühe vor dem Herrn ihre Anbetung verrichtet hatten, kehrten sie in ihr Haus nach Rama zurück. Elkana erkannte seine Frau Hanna, und der Herr gedachte ihrer.
20 Als ein Jahr vergangen war, gebar Hanna, die guter Hoffnung geworden war, einen Sohn. Sie nannte ihn Samuel; "denn", sagte sie, "vom Herrn habe ich ihn erbeten."1314
21 Als ihr Mann Elkana mit seiner ganzen Familie wieder hinaufzog, um dem Herrn das jährliche Opfer und das, was er gelobt hatte, darzubringen,
22 ging Hanna nicht mit hinauf, sondern sagte zu ihrem Mann: "Wenn der Knabe entwöhnt ist, will ich ihn hinbringen, damit er vor dem Herrn erscheint und für immer dort bleibt."15
23 Ihr Mann Elkana erwiderte ihr: "Tue, was du für gut hältst! Bleibe, bis du ihn entwöhnt hast! Möge der Herr sein Versprechen erfüllen!" So blieb die Frau zurück und stillte ihren Sohn bis zu seiner Entwöhnung.
24 Sobald sie ihn entwöhnt hatte, führte sie ihn mit sich hinauf samt einem dreijährigen Rind, einem Efa Mehl und einem Schlauch Wein. So brachte sie ihn in das Heiligtum des Herrn in Schilo. - Der Knabe war damals noch sehr jung.16
25 Als man das Rind geschlachtet und den Knaben zu Eli gebracht hatte,
26 sagte sie: "Verzeihe, Herr! So wahr du lebst, mein Herr! Ich bin die Frau, die hier bei dir stand, um den Herrn anzuflehen.
27 Um diesen Knaben habe ich gebetet. Nun hat mir der Herr die Bitte gewährt, die ich an ihn richtete.
28 So übergebe ich ihn dem Herrn. Für sein ganzes Leben sei er dem Herrn geweiht!" - Dann betete sie dort den Herrn an.
1 Wie im Buch Exodus für Mose, so ist auch hier für Samuel eine Kindheitsgeschichte vorgeschaltet, um, seiner Bedeutsamkeit entsprechend, von Anfang an Gottes Fügung und Führung sichtbar werden zu lassen. - >Ramatajim-Zofim< wird von manchen Schrifterklärern mit der Ortschaft Rama (= Anhöhe) im Gebiet des Stammes Benjamin gleichgesetzt (vgl. Jos 18, 25), die 8 km nördlich von Jerusalem, etwa auf halbem Weg nach Bet-El liegt (vgl. Ri 4, 5; - heute: Er-Ram). Andere suchen die Örtlichkeit jedoch viel weiter nordwestlich auf der Westseite des Gebirges Efraim.
2 Vielleicht hat Elkana nach orientalischem Recht die zweite Frau genommen, weil Hanna kinderlos geblieben war.
3 ℘ Dtn 21, 15 - 17
4 >Schilo< (heute: Selun, ca. 20 km südlich von Nablus, dem früheren Neapolis) liegt etwa 15 km nördlich von Bet-El, etwa auf halbem Weg nach Sichem. In Schilo befand sich etwa 300 Jahre lang das Heiligtum der Bundeslade, bis es später (wahrscheinlich um 1050 v.Chr. nach der Schlacht bei Afek, vgl. 1Sam 4, 1) durch die Philister zerstört wurde (vgl. Jer 7, 12 - 15;Jer 26, 6. 9). - Elkana pilgerte alljährlich mit seiner Familie nach Schilo, wahrscheinlich zur Feier des Laubhüttenfestes. - Die >Heerscharen< (= Zebaot) des Herrn scheinen nach der alten Auffassung die Schlachtreihen der Stämme Israels zu sein (vgl. 1Sam 17, 45), dann aber auch das Heer der himmlischen Wesen (Engel) oder der Sterne (vgl. Jes 40, 26;Ps 103, 20 - 25), ja aller Wesen der Welt (vgl. Gen 2, 1). Es ist aber auch möglich, daß dieser Ausdruck einfach eine zusammenfassende Umschreibung der unbegrenzten Machtfülle, der >All-Macht<, des Herrn, des Gottes Israels, sein soll.
5 ℘ Lev 23, 39;Ri 21, 19
6 ℘ Dtn 12, 18
7 ℘ Ri 13, 3;Lk 1, 7
8 ℘ Gen 16, 4f
9 ℘ Ps 113, 9;Weish 3, 13. 14;Weish 4, 1;Sir 16, 3§Rut 4, 15
10 Hanna erfleht nicht nur für sich einen Sohn; die Frucht ihres Gebetes soll Gott geweiht sein. Das äußere Zeichen des Gottgeweihten (des >Nasiräers<, vgl. die Anm. zu Ri 13, 4) ist das ungeschorene Haar.
11 ℘ Ri 13, 5;Ri 16, 17;Num 6, 1 - 21§Lk 1, 48
12 Zu >Tochter Belials< vgl. die Anm. zu Dtn 13, 14.
13 Der Name >Samuel< ist hier volkstümlich mit der Wortwurzel >schaal< (= erbitten) zusammengebracht. Die genaue Ableitung ergibt jedoch, daß er aus >schem< (= Name) und >el< (= Gott) zusammengesetzt ist und >über ihm ist der Name Gottes genannt< bedeutet.
14 ℘ Sir 46, 13 - 20
15 >Wenn der Knabe entwöhnt ist...< - vgl. dazu 2Makk 7, 27.
16 Ein >Efa< faßt 36,4 Liter.