Dan 1

Einführung in das Buch Daniel





Gottes Macht in Zeit und Endzeit



Im prophetischen Schrifttum nimmt das Buch Daniel eine Sonderstellung ein. Dies läßt sich schon daran erkennen, daß es in der hebräischen Bibel zur dritten Gruppe der "Schriften" gehört, während es im christlichen Kanon (nach dem Vorgang der griechischen Septuaginta-Übersetzung) unter die Prophetenbücher eingereiht ist. Hier steht Daniel als vierter bei den "Großen Propheten.



Auch die Entstehungsgeschichte des Buches gibt mancherlei bis heute ungelöste Rätsel auf. Es ist teils in hebräischer, teils in aramäischer Sprache überliefert und weist außerdem noch Erweiterungen und Zusätze in griechischer Sprache auf. Aber auch inhaltlich besteht es aus sehr verschiedenen Teilen.



In den ersten sechs Kapiteln, sowie in einem Anhang am Ende, bringt das Buch breit ausgesponnene Erzählungen über Daniel und seine Gefährten. Die Zielrichtung dieser Geschichten liegt jedoch klar zutage: Sie sollen eindrucksvoll zeigen, wie Gott seinen Getreuen beisteht, indem er ihnen aus ihrem gläubigen Vertrauen heraus Anteil an jener Weisheit zukommen läßt, mit der er selbst seine alles überragende Herrschermacht gegen jede ihm widerstrebende Macht siegreich durchzusetzen weiß.



Im zweiten Teil (vom siebten Kapitel an) enthält das Buch hingegen eine Folge dramatisch bewegter Bilder, die den Ablauf der Weltgeschichte außerhalb Israels, beginnend mit der Zeit Nebukadnezzars bis hin in die Zeit der Makkabäer, darzustellen um dann, im Ausblick auf das kommende Gottesreich der Endzeit, den letzten Sinn aller irdischen Geschichte zu erschließen. Diese Bilderfolgen sind dem Daniel des ersten Teiles in der Form persönlicher Visionsberichte in den Mund gelegt.



Vieles scheint nun dafür zu sprechen, daß die ursprünglich in der babylonischen Zeit angesiedelten Erzählungsstücke erst in der Makkabäerzeit, und zwar während der blutigen Glaubensverfolgung unter dem syrischen König Antiochus IV. Epiphanes gesammelt, neu gefaßt, miteinander verbunden und auf die Fragen und Nöte der Zeit ausgerichtet worden sind, um durch Beispiele aus der Vergangenheit den Glaubensmut, aber auch die Glaubenszuversicht des bedrängten jüdischen Volkes zu stärken.



Was in den Erzählungen mehr im erbaulichen Stil angebahnt ist, wird dann in den Visionen des zweiten Teiles im Offenbarungsstil der "Apokalyptik" weitergeführt, vertieft und vollendet: Die Kraft zum Durchstehen in Verfolgung und Bedrängnis, verbunden mit der Hoffnung auf die nahe bevorstehende entscheidende Wende von Gott her, soll den Frommen im Volk aus der Glaubensgewißheit erwachsen, daß Gott, der absolute Herrscher über alle irdischen Mächte, die Weltgeschichte nach seinem Plan durch alle ihre Aufstiege und Untergänge hindurchführt zu ihrem letzten Ziel: zur Errichtung seiner Königsherrschaft in der Endzeit.



Vieles am und im Buche Daniel ist und bleibt geheimnisvoll. Doch als neu in die Zukunft führender Schritt auf dem Weg der Verheißung des kommenden Gottesreiches hat diese Schrift nachhaltigsten Einfluß geübt bis hinein in die neutestamentliche Zeit. In den Evangelien wird die Botschaft vom Anbruch der Königsherrschaft Gottes zum alles durchdringenden Thema. Jesus von Nazaret greift mit Vorliebe die danielische Bezeichnung "Menschensohn" auf (vgl. Dan 7, 12 - 15) und bezieht sie auf sich selbst. In seiner Rede über das Weltende und die Zerstörung Jerusalems nimmt er ausdrücklich auf das Danielbuch Bezug (vgl. Mt 24, 15§Dan 9, 27; Dan 12, 11). Vor dem Hohen Rat stellt er sich und seine Sendung unter das Zeichen des "Menschensohnes", nimmt in diesem Zeichen den Tod auf sich und sagt durch dieses Zeichen sich selbst als den zu Gott Erhöhten voraus (vgl. Mt 26, 64 - 67).





Das Buch Daniel

Daniel am königlichen Hof in Babel

Vorbemerkungen

1 Im dritten Jahr der Regierung des Königs Jojakim von Juda zog Nebukadnezzar, der König von Babel, gegen Jerusalem und belagerte es.12
2 Und der Herr gab Jojakim, den König von Juda, und einen Teil der Geräte des Tempels Gottes in seine Hand. Er brachte sie in das Land Schinar in den Tempel seines Gottes. Im Schatzhaus seines Gottes ließ er die Geräte niederlegen.34

Daniels Ausbildung für den königlichen Dienst

3 Da befahl der König dem Aschpenas, dem Vorsteher der Kämmerer, er solle von den Israeliten königlicher und fürstlicher Abstammung5
4 Knaben kommen lassen, die ohne Fehl wären, mit schönem Aussehen, wohl bewandert in aller Weisheit, reich an Kenntnissen und gut erzogen, die Geschick dazu hätten, im Palast des Königs aufzuwarten. Er solle sie unterrichten in Schrift und Sprache der Chaldäer.6
5 Der König bestimmte ihren täglichen Unterhalt vom königlichen Tisch und vom Wein, den er selber trank. Er befahl, sie drei Jahre lang auszubilden, nach deren Ablauf sie in den königlichen Dienst treten sollten.
6 Unter ihnen befanden sich die Judäer Daniel, Hananja, Mischaël und Asarja.
7 Der Vorsteher der Kämmerer gab ihnen jedoch andere Namen. Daniel nannte er Beltschazzar, Hananja Schadrach, Mischaël Meschach und Asarja Abed-Nego.7

Daniels Gesetzestreue

8 Daniel war fest entschlossen, sich weder an der Kost des Königs noch an dem Wein, den dieser trank, zu verunreinigen. Er bat daher den Vorsteher der Kämmerer, sich nicht verunreinigen zu müssen.89
9 Und Gott ließ Daniel beim Vorsteher der Kämmerer Nachsicht und Gnade finden.10
10 Doch sagte der Vorsteher der Kämmerer zu Daniel: "Ich fürchte mich vor meinem königlichen Herrn, der Speise und Trank für euch bestimmt hat; denn wenn er sähe, daß eure Gesichter schmächtiger wären als die der anderen Knaben eures Alters, so hätte ich durch eure Schuld mein Haupt beim König verwirkt."
11 Doch Daniel bat den Aufseher, den der Vorsteher der Kämmerer über ihn, Hananja, Mischaël und Asarja gesetzt hatte:
12 "Versuche es, bitte, zehn Tage lang mit deinen Knechten! Man gebe uns nur Gemüse zu essen und Wasser zu trinken.
13 Dann magst du unser Aussehen und das jener Knaben, die von des Königs Tafel essen, in Augenschein nehmen, und gemäß dem, was du siehst, mit deinen Knechten verfahren."
14 Er war ihnen hierin zu Willen und versuchte es mit ihnen zehn Tage lang.
15 Nach Verlauf von zehn Tagen aber sahen sie besser und wohlgenährter aus als alle Knaben, die von der königlichen Tafel aßen.
16 Da ließ der Aufseher die Speise und den Wein, den sie trinken sollten, beiseite und gab ihnen nur Gemüse.

Aufnahme in den königlichen Dienst

17 Gott verlieh aber diesen vier Knaben Wissen und Einsicht in alle Schriftkunde und Weisheit. Daniel verstand sich auch auf Visionen und Träume jeglicher Art.11
18 Als die Zeit um war, nach deren Verlauf sie auf Befehl des Königs diesem vorgestellt werden sollten, führte sie der Vorsteher der Kämmerer zu Nebukadnezzar.
19 Der König redete mit ihnen, und unter allen fand sich keiner wie Daniel, Hananja, Mischaël und Asarja. Daher wurden sie zum königlichen Dienst zugelassen.
20 In allen Fällen, die Weisheit und Einsicht verlangten, fand sie der König, sooft er sie befragte, allen Zauberern und Wahrsagern in seinem ganzen Königreich zehnmal überlegen.12
21 Daniel erlebte noch das erste Jahr von König Kyrus.13
1 Die Zeitangabe bereitet den Schrifterklärern seit eh und je Schwierigkeiten. Manches scheint dafür zu sprechen, daß hier die Angaben von 2Kön 24, 1f. 10 - 16 in eins gefaßt sind. Im übrigen ist zu bedenken, daß gerade über die Phase der Festigung des Neubabylonischen Reiches auch außerbiblisch nur spärliche und unsichere Nachrichten vorliegen.
2 ℘ 1 - 2 # 2Chr 36, 5 - 7
3 >Schinar<, die alte Bezeichnung für das Land zwischen den Unterläufen von Eufrat und Tigris (vgl. Gen 11, 2), steht hier für ganz Babel.
4 ℘ Gen 10, 10;Gen 11, 2;Sach 5, 11
5 ℘ 2Kön 20, 18
6 Die >Chaldäer< (babylonisch Kaldu) sind ein südbabylonischer Volksstamm, der schon in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts v.Chr. unter Merodach-Baladan gegen die assyrische Herrschaft aufbegehrte (vgl. die Anm. zu 2Kön 20, 12) und deren Fürst Nabopolassar (der Vater des Nebukadnezzar) um 625 v.Chr. zum Begründer des Neubabylonischen Reiches wurde. - Im Danielbuch steht der Name >Chaldäer< jedoch meist als Bezeichnung einer besonderen Klasse babylonischer Weiser, die sich vor allem mit Astrologie und Traumdeutung befaßte. - Mit der chaldäischen Schrift dürfte die sog. Keilschrift gemeint sein.
7 Der Name >Abed-Nego< lautete ursprünglich vielleicht >Abed-Nebo< (Diener Nabus, vgl. dazu die Anm. zu Jes 46, 1). Da man den Gefährten Daniels nicht in Zusammenhang mit heidnischen Götternamen stehen lassen wollte, hat wahrscheinlich ein Abschreiber den Namen geändert.
8 Daniel wollte sich und seine Gefährten weder der Gefahr aussetzen, durch den Genuß >unreiner Speisen< (Fleisch verbotener Tiere, Blut usw.) die strengen mosaischen Speisegesetze zu verletzen, noch durch Genuß von Speisen (Fleisch, Wein), die zuvor heidnischen Göttern geopfert worden waren, in den Geruch des Abfalls vom Gott Israels zu kommen (vgl. Tob 1, 12;1Makk 1, 62f;2Makk 6, 18 -31;2Makk 7, 1 - 42§Röm 14;1Kor 8).
9 ℘ Lev 11, 4 - 8;Jer 35, 6
10 ℘ Gen 39, 21
11 ℘ Amos 2, 11;Gen 41, 12
12 Hier klingt der Grundgedanke der geschichtlichen Kapitel an: Der Gott Israels schenkt Weisheit, die menschlicher Weisheit überlegen ist - im Vergleich zu ihm sind die Götter der Heiden >Nichtse<.
13 ℘ Dan 10, 1