Esra 1



Die babylonische Gefangenschaft





Über das Schicksal des Volkes in der Zeit der Babylonischen Gefangenschaft liegt kein Geschichtsbericht vor. Jedoch läßt sich aus anderen in der Bibel (vor allem in den Büchern der Propheten Jeremia und Ezechiel) zerstreuten Nachrichten in großen Zügen ein Bild davon zeichnen.



Vor allem ist wichtig, daß im Gegensatz zum Vorgehen der Assyrer beim Untergang des Nordreiches (2Kön 17, 1 - 6) Nebukadnezzar keine fremdstämmigen Volksgruppen in das Gebiet des Südreiches Juda verpflanzt. Im ‘verödeten’ Land bleibt noch genügend Volk aus der bäuerlichen Schicht zurück.



Für die in die Verbannung weggeführte Oberschicht des Volkes ist das Leben ‘auf fremder Erde’ (Ps 137, 4) trotz aller Beschränkungen und trotz der Bitterkeit des Heimwehs äußerlich einigermaßen erträglich. Schon der Prophet Jeremia gibt den ersten Verbannten den Rat, sich dort Häuser zu bauen und darin zu wohnen, Gärten zu pflanzen und deren Früchte zu essen, zu heiraten und sich zu vermehren (vgl. Jer 29, 5f). In der Tat, die Verbannten dürfen geschlossen siedeln und in eigenen Ortschaften unter der Leitung ihrer Vorsteher leben. Religiöser Druck scheint nicht auf sie ausgeübt worden zu sein. Sie können, soweit es möglich ist, die Vorschriften ihres Glaubens beobachten und sich zu gottesdienstlichen Versammlungen zusammenfinden. (Die spätere Synagoge hat hier ihre ersten Wurzeln.)



Innerlich freilich sind viele von Zweifeln zerrissen. Ist ihr Gott, auf den sie vertraut und auf dessen Hilfe sie bis zuletzt noch gehofft haben, nicht offensichtlich den Göttern der Heiden unterlegen? Hat er sich nicht als ohnmächtig erwiesen? Sind seine Verheißungen nicht doch nur leere Worte gewesen? Daheim und erst recht in der Fremde kehrt ihm nun mancher den Rücken.



Und doch können gerade jetzt die Tieferblickenden die Erfahrung machen, daß Gott, der HERR des Heiles, immer noch derselbe Gott ist, der da-ist und der da-bleibt, der Gott des Weges und der Pilgerschaft, der keine Grenzen kennt und der an kein Land und an keinen Ort gebunden ist.



Wohl liegt der Tempel in Trümmern, wohl hat der Opferkult aufgehört. Doch auch ohne Tempel und ohne Opfer ist Gott seinem Volk nah - auch und vor allem in der Fremde. In der Mitte der Verbannten ersteht ein großer Prophet: Ezechiel. Wahrscheinlich ist er unter denen gewesen, die bei der Wegführung (im Jahr 598 v.Chr.) mit König Jojachin den Weg in die Verbannung antreten mußten (vgl. 2Kön 24, 11 - 14). Dort muß er sich anfangs noch gegen die falschen Hoffnungen der Verbannten auf eine baldige Heimkehr wenden und gegen falsche Propheten auftreten, die diese Hoffnung nähren. Als dann Jerusalem endgültig zerstört ist, beginnt seine eigentliche Aufgabe. Ezechiel richtet die Verzweifelnden auf, läßt sie das Unheil als Gottes gerechte Vergeltung begreifen, tröstet sie, gibt ihnen neue Hoffnung und verheißt ihnen ein neues Heil. So wird er zum ‘Seelsorger’ der Verbannten.

Zwar sind seine Worte für viele in den Wind gesprochen. Für de besten Kreise des Volkes jedoch wirkt und predigt Ezechiel nicht vergeblich. Er trägt entscheidend dazu bei, daß die Zeit der Verbannung zu einer Zeit der Einkehr und Besinnung, der Umkehr und Läuterung wird. Nach der ersten Betäubung beginnt man sich wieder zu fassen, sich auf sich selbst als auf Gottes Volk zu besinnen und zu den Quellen der einstigen Kraft zurückzukehren. Falsche Hoffnungen sind zu Ende, falsche Träume sind ausgeträumt. Man fängt an, die alten aus dem Untergang geretteten Schriften zu sammeln, sie im Licht der traurigen Gegenwart mit anderen Auge zu lesen, sie neu zu durchdenken und sie sich neu zu eigen zu machen. So findet Israel wieder zu sich selbst, gewinnt neues Selbstvertrauen und damit vertiefte Liebe zu seiner Eigenart und Besonderheit. Ja, man betont mehr und mehr geradezu das, wodurch man sich von der heidnischen Umgebung abhebt. Dazu gehören in erster Linie Beschneidung und strenge Einhaltung des Sabbats, die von nun an zu den bestimmenden Unterscheidungszeichen für die Zugehörigkeit zum Volk Gottes werden.



Und wenn es schließlich auch nur ein ‘Rest’ ist, der die Zeit der Prüfung besteht und übersteht: es ist ein Rest, der sich um ein heiliges Erbe sammelt, das eine neue Zukunft verheißt. So beginnt sich nach und nach das zu bilden, was man seither - weil hervorgegangen aus den Resten des Reiches Juda - ‘Judentum’ nennt.



Dazu kommt, daß gegen Ende der Babylonischen Gefangenschaft noch ein anderer Prophet seine Stimme erhebt, dessen Name zuvor unbekannt ist, den man aber - weil seine Schriften später dem Buch des Propheten Jesaja angefügt worden sind - den ‘Zweiten (Deutero-) Jesaja’ nennt. Seine Botschaft von Gott, dem HERRN des Heiles, ist von bisher unerhörter Kraft, Kühnheit und Weite. Vom Anfang der Schöpfung bis hinein in die Endzeit ist alles Geschehen in der Geschichte der Völker und in der Geschichte Israels - als deren geheimem Mittelpunkt - Gottes ausschließliches, nach weisem Heilsplan gestaltetes, machtvolles Werk. Es ist eine Botschaft des Trostes und der Zuversicht, voll drängender Erwartung des nahe bevorstehenden Heiles.



Nun wandeln sich rasch auch die politischen Machtverhältnisse. Das Neubabylonische Reich erweist sich mehr und mehr als Koloß auf tönernen Füßen. Schon taucht am Horizont der Perserkönig Kyrus auf, prophetisch begrüßt als 'Gesalbter des Herrn’ (Jes 45, 1), als neues Werkzeug in Gottes Hand, um Gottes Volk aus der Knechtschaft zu befreien (vgl. Jes 41, 2 - 5). Ein neuer ‘Auszug’, herrlicher als der aus Ägypten, steht Israel bevor (vgl. Jes 40, 1 - 11). Gott hat sich als Israels guter ‘Hirte’ wieder seines Volkes angenommen (vgl. Ez 34, 11f).



Gottes Gemeinde: Israels Rest



Als der Perserkönig Kyrus im Jahre 539 v.Chr. das Neubabylonische Reich überrennt und als Sieger in die Hauptstadt Babel einzieht, greift im Zeugnis der Schrift Gott selbst wieder ein und erfüllt für sein Volk die Verheißung des neuen Heiles. Das Wort des Propheten vom neuen ‘Auszug’ beginnt sich zu verwirklichen.



Tatsächlich aber ist es ein völliger Neubeginn. Am Anfang steht zwar die Erlaubnis des Kyrus, den alten Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen. Doch dieser Tempel ist nicht mehr Mittelpunkt eines Reiches. Mit der politischen Macht ist es vorbei. Das davidische Königtum ist endgültig aus der Geschichte verschwunden und ersteht nicht mehr. Um den in der heiligen Stadt wieder erstehenden Tempel bildet sich nur eine kleine religiöse Gemeinde unter der Oberherrschaft der Perser.



Auch macht nur ein kleiner Teil der Verbannten von der Möglichkeit der Rückkehr ins Land der Väter Gebrauch. Nicht wenige sind zum Heidentum übergegangen. Andere, die wohl dem Glauben der Väter treu geblieben, aber zu Wohlstand und Einfluß gelangt sind, scheuen den Zug ins Ungewisse. So bleibt, obwohl der heimgekehrte ‘Rest’ im Land der Väter ein neues Gemeinwesen aufbaut, von nun an die ‘Zerstreuung’ (Diaspora) der Dauerzustand des jüdischen Volkes. (Später werden dann diese in aller Welt zerstreuten Judengemeinden die ersten Stützpunkte für die Ausbreitung des Christentums - vgl. Apg 2, 5 - 8;Apg 9, 20;Apg 13, 5. 14 - 17;Apg 14, 1;Apg 17, 1 - 4. 10;Apg 18, 4. 19).



Die Nachrichten über den Wiederaufbau des Tempels, über die Rückkehr einzelner Gruppen und über das Leben der Heimgekehrten in und um Jerusalem sind spärlich und lückenhaft. Die beiden folgenden Bücher - ursprünglich Teil des Chronikwerkes - enthalten nur wenige und meist unzusammenhängende Berichte aus dieser Zeit. So ist es auch nicht mehr möglich, den genauen Ablauf der Ereignisse im einzelnen zu bestimmen, die sich mit den Namen Esra und Nehemia verknüpfen.





Einführung in das Buch Esra





Das erste der beiden ursprünglich zusammenhängenden Bücher ist eine Sammlung von Dokumenten und Berichten, in deren Mittelpunkt der Wiederaufbau des Tempels und die Reformtätigkeit des ‘Schriftgelehrten’ Esra in Jerusalem stehen.

Das Buch Esra

Heimkehr der Juden und Wiederaufbau des Tempels

Das königliche Edikt

1 Im ersten Jahr der Regierung des Perserkönigs Kyrus gab der Herr - damit die Verheißung des Herrn, die Jeremia verkündet hatte, in Erfüllung gehe - dem Perserkönig Kyrus ein, in seinem ganzen Reich folgendes ausrufen und auch schriftlich bekanntgeben zu lassen:12
2 "Folgendes läßt Kyrus, der König von Persien, zur Kenntnis bringen: Alle Reiche der Erde hat der Herr, der Gott des Himmels, mir übergeben. Er hat mich nun beauftragt, ihm zu Jerusalem in Juda einen Tempel zu erbauen.34
3 Wer unter euch allen irgendwie zu seinem Volk gehört, der ziehe mit Gottes Segen nach Jerusalem in Juda und baue dort den Tempel des Herrn, des Gottes Israels, des Gottes, der in Jerusalem wohnt.5
4 Überall, wo sich auch Volksreste aufhalten, sollen die Ortsbewohner sie mit Silber und Gold, mit Habe und Vieh nebst Gaben für das Gotteshaus in Jerusalem unterstützen."

Die ersten Heimkehrer

5 So machten sich denn von den Familienhäuptern von Juda und Benjamin sowie von den Priestern und Leviten alle, denen Gott es eingab, auf den Weg, um den Tempel des Herrn in Jerusalem wiederaufzubauen.
6 Alle ihre Mitbewohner unterstützten sie mit silbernen Gefäßen, mit Gold, Habe, Vieh und kostbaren Geschenken, abgesehen von allen Weihegaben.6

Die Herausgabe der Tempelgeräte

7 König Kyrus aber gab die Geräte des Tempels des Herrn heraus, die Nebukadnezzar aus Jerusalem weggeschleppt und in den Tempel seines Gottes gebracht hatte.7
8 Und zwar ließ sie der Perserkönig Kyrus durch den Schatzmeister Mitredat herausgeben. Dieser händigte sie unter Aufnahme ihrer Zahl dem judäischen Fürsten Scheschbazzar aus.8
9 Ihre Zahl war folgende: 30 goldene, 1.000 silberne Becken, 29 Messer,
10 30 goldene, 410 silberne Becher zweiter Gattung, 1.000 andere Geräte,
11 im ganzen 5.400 goldene und silberne Geräte. Dies alles brachte Scheschbazzar mit, als die Verbanntenschar aus Babel nach Jerusalem geführt wurde.
1 Für die Juden, die sich in der babylonischen Gefangenschaft aufhielten, war das Jahr 538 v.Chr., in dem Kyrus die Herrschaft über Babylon antrat, dessen erstes Regierungsjahr. König von Persien war Kyrus seit 559 v.Chr. - Zur Verheißung der Rückkehr Israels aus der Verbannung vgl. Jer 25, 11f;Jer 29, 10;Jer 31, 18 - 20. Zur Rolle des Kyrus dabei vgl. Jes 41, 2f;Jes 44, 28;Jes 45, 1f.
2 ℘ 2Chr 26, 22f;Jer 25, 11f;Jer 29, 10;Sach 1, 12
3 >Gott des Himmels< steht seit der Perserzeit bisweilen als erläuternder Zusatz zu >Herr< (Jahwe), besonders in Aussagen, die es mit Nichtjuden zu tun haben.
4 ℘ Jes 45, 1
5 V. 3 - 4: Die Erlaubnis zur Rückkehr erstreckte sich demnach auf alle Angehörigen des jüdischen Volkes, auch auf etwaige Reste des ehemaligen Nordreiches >Israel<. Vgl. aber V.5!
6 ℘ Ex 3, 22;Ex 11, 2;Ex 12, 35
7 Vgl. auch Bar 1, 8.
8 Die von manchen vertretene Identität des Scheschbazzar mit Serubbabel ist geeignet, das ständige Hervortreten des letzteren befriedigend zu erklären, während es bei der Annahme zweier verschiedener Persönlichkeiten auffällt, daß Scheschbazzar im Verlauf der Erzählung nicht weiter genannt wird. Aber abgesehen davon, daß für einen Doppelnamen Serubbabels wohl keine hinreichende Begründung gegeben werden kann, wird in der Urkunde Esra 5, 14 Scheschbazzar in einer Weise erwähnt, die obige Annahme kaum zuläßt. Vielleicht hatte Scheschbazzar nur die Aufgabe, als Vertreter des Perserkönigs den Aufbruch zu leiten, oder er machte bald aus einem nicht mehr ersichtlichen Grund dem Serubbabel Platz. So konnte beiden die Grundsteinlegung des Tempels (vgl. Esra 5, 16;Hag 1, 14) zugeschrieben werden.