Ez 1

Einführung in das Buch Ezechiel





Richtergott und Rettergott



Wie Jeremia so entstammt auch Ezechiel einem Priestergeschlecht. Und wie Jeremia so hat auch Ezechiel den Untergang Jerusalems miterlebt, aber nicht in der belagerten Stadt selbst, sondern als Verbannter aus der Ferne. Ezechiel gehört bereits zur neuen Generation, zur Generation der Überlebenden.



Bei der Wegführung nach Babel im Jahre 598 v.Chr. muß er als junger Mann in der Gruppe um König Jojachin in die Verbannung ziehen. Fünf Jahre später (593 v.Chr.) wird er dort am Fluß Kebar, einem Nebenkanal des Eufrat, zum Propheten berufen (vgl. Ez 1;Ez 2, 1 - 8§Ez 2, 9f;Ez 3, 1 - 15). Über 20 Jahre lang wirkt er dann inmitten seiner Schicksalsgenossen.



Wenn die Verbannten auch fern der Heimat weilen, so bleiben sie doch in leidenschaftlicher Anteilnahme mit dem Schicksal der Heimat verbunden, vor allem mit dem Schicksal Jerusalems. Auch Ezechiel unterscheidet sich darin nicht von ihnen.



Aber während die anderen ihr Verbanntenlos als unverdient und grausam beklagen und, wie vom Fieber geschüttelt, Tag um Tag auf ein Wunder warten, durch das Jerusalem befreit und ihnen selbst die erhoffte Heimkehr gewährt wird, hat Ezechiel die Aufgabe, ihnen hart und unerbittlich alle Illusionen zu zerstören: Es ist Gott selbst, der der schuldbefleckten Stadt den Untergang bereitet. Als heiliger und gerechter Richter - darauf kommt der Prophet immer wieder zurück - ist der Bundesgott Israels dies seiner Ehre schuldig.



Für Gottes Ehre aber streitet Ezechiel leidenschaftlich mit allen Waffen in Wort und Tat. So wird er zum härtesten und unerbittlichsten aller Propheten - für unser modernes Gefühl freilich auch zum seltsamsten und fremdartigsten. Seine Bilderreden und Zeichenhandlungen sind von bestürzender Offenheit, ja bisweilen von abstoßender Häßlichkeit. Bis in seinen körperlichen Zustand ist Ezechiel oft von der Gewalt der inneren Leidenschaft gezeichnet.



Nicht als ob seine Sprache roh und polternd wäre. Sie ist im Gegenteil ungemein reich, biegsam und treffend. Man braucht nur die atemberaubende Schilderung der "Gotteserscheinung" (Ez 1, 4 - 26), das unheimlich dröhnende "Lied vom Ende" (Ez 7) oder das dramatische Bild von der "Auferstehung des Volkes" (Ez 37) auf sich wirken zu lassen, um zu erkennen, daß dem Propheten hier Höchstleistungen an sprachlicher Kraft und anschaulicher Verdichtung gelungen sind.



In einer auch im alttestamentlichen Rahmen einzigartigen Entrückung wird Ezechiel in das ferne Jerusalem versetzt, erlebt dort die Greuel des Götzendienstes und wird Zeuge, wie die "Herrlichkeit Gottes" den befleckten und entweihten Tempel verläßt (Ez 8;Ez 9§Ez 10;Ez 11). So erfährt er, daß die Stadt endgültig ihren Feinden preisgegeben ist.



Als aber dann (587 v.Chr.) die Nachricht vom Fall Jerusalems in Babylon eintrifft, wird der Blick des Propheten frei für das Kommende. Der Richtergott der Vergangenheit wird zum Rettergott der Zukunft, und Ezechiel zum Tröster der Verzagten und Verzweifelten. Man hat ihn treffend den "Seelsorger" der Verbannten genannt, der sie das Unheil als Gottes gerechte Vergeltung begreifen läßt und ihnen als Sinn der Züchtigung innere Einkehr und Läuterung erschließt.



Zwar haben auch die Propheten vor Ezechiel durch das Gericht hindurch künftiges Heil geschaut. Aber aufs Ganze gesehen hat bisher die Unheilsdrohung überwogen. Bei Ezechiel wird nun zum erstemal beides in gleicher Weise und mit gleichem Nachdruck hörbar. Das kommende Heil nimmt im zweiten Teil seines Buches genau denselben breiten Raum ein wie vorher die Gerichtsdrohung im ersten.



In Bildern von eigenartiger Kraft und Schönheit zeichnet Ezechiel Zug um Zug zuerst das neue Gottesvolk und dann das neue Gottesreich. Dies Neue heraufzuführen, übersteigt freilich menschliche Kraft. Darum wird Gott selbst eingreifen.



Sein Geist erweckt das Volk zu neuem Leben (Ez 37) und schafft es innerlich um, damit es ihm mit einem neuen Herzen im neuen Geist diene (Ez 36, 26f). Und Gott selbst wird anstelle der bisherigen schlechten Hirten ein guter Hirt sein. (Ez 34).



Noch eindringlicher sind Ezechiels Visionen vom neuen Gottesreich. Mit besonderem Nachdruck zeichnet er dabei das Bild des neuen Tempels als des Mittelpunktes, auf den alles übrige ausgerichtet ist. Man hat eine Unsumme von Gelehrsamkeit darauf verwandt, die vielen, oft kleinlich genauen Angaben zu deuten, mit denen der Prophet das Geschaute beschreibt. Wahrscheinlich haben aber auch spätere Zeiten ihre Wünsche und Hoffnungen gerade in diese Schlußkapitel des Buches eingetragen.



Eines aber ist sicher: Durch diese ausführlichen Beschreibungen, die sich in den Einzelheiten vielleicht an die gewaltigen Bauten der babylonischen Umgebung anlehnen und sie bewußt übersteigern, will Ezechiel den Verbannten in Babylon die Gewißheit geben, daß das erwartete Gottesreich nicht in der Unverbindlichkeit nebelhafter Hoffnungen verbleiben, sondern festgefügte und alles Bisherige überragende Gestalt gewinnen wird.



So hat denn auch der Verfasser der Geheimen Offenbarung im Neuen Testament die Visionen Ezechiels wieder aufgegriffen und sie auf die Vollendung des Heiles durch Jesus Christus bezogen (vgl. Offb 21, 9 - 27§Offb 22, 1 - 3).



Das Buch des Propheten Ezechiel, wie es in der Bibel vorliegt, besteht im wesentlichen aus den "tagebuchartigen" Aufzeichnungen des Propheten selbst, die später allerdings nach nicht mehr erkennbaren Gesichtspunkten zusammengefügt, bisweilen aber auch ineinander verschoben sind. Deshalb ist, besonders im ersten Teil, manches ursprünglich Zusammengehörige nun auseinandergerissen und im Verständnis erschwert.

Das Buch Ezechiel

Berufung zum Propheten

Zeit und Ort

1 Im dreißigsten Jahr, im vierten Monat, am Fünften des Monats, als ich bei den Gefangenen am Fluß Kebar lebte, tat sich der Himmel auf und ich sah göttliche Erscheinungen.12
2 Am fünften des Monats, im fünften Jahr nach der Wegführung des König Jojachin,
3 erging das Wort des Herrn an Ezechiel, den Sohn Busis, den Priester, im Land der Chaldäer am Fluß Kebar, und die Hand des Herrn kam dort über ihn.34

Die Gotteserscheinung

Die Feuerwolke

4 Ich hatte folgendes Gesicht: Von Norden her brach ein Sturmwind herein mit einer gewaltigen Wolke voll flackernden Feuers. Lichtglanz umgab sie, und von innen heraus leuchtete es wie Gold im Feuer.56

Der Thronwagen

5 Mitten darin erschienen Gestalten, die vier lebenden Wesen ähnlich waren. Ihr Aussehen war folgendes: Sie hatten Menschengestalt.7
6 Jedes hatte vier Gesichter und jedes von ihnen vier Flügel.
7 Ihre Beine waren gerade und ihre Fußsohlen wie die eines Kalbsfußes. Sie funkelten wie blinkendes Erz.
8 Menschenhände erschienen unter ihren Flügeln an allen vier Seiten. Ihre Gesichter und die Flügel der Vier - ihre Flügel berührten einander -
9 wandten sich nicht um, wenn sie gingen; jedes Wesen ging geradeaus vor sich hin.8
10 Das Aussehen ihrer Gesichter war folgendes: Vorn hatten sie ein Menschengesicht, rechts ein Löwengesicht, links ein Stiergesicht, nach innen zu ein Adlergesicht, bei allen vier Wesen.9
11 Ihre Flügel waren oben ausgebreitet. Mit zweien berührten sie einander, und mit zweien bedeckten sie ihre Leiber.10
12 Ein jedes ging geradeaus vor sich hin. Wohin der Geist sie zu gehen trieb, dahin gingen sie. Sie wandten sich nicht um, wenn sie gingen.
13 In der Mitte der Wesen war etwas, das aussah wie glühende Feuerkohlen, wie Fackeln. Diese fuhren zwischen den Wesen hin und her Das Feuer hatte einen leuchtenden Glanz, und Blitze gingen aus dem Feuer hervor.11
14 Die Wesen liefen hin und her, so daß es aussah, als ob Blitze zuckten.
15 Als ich die Wesen betrachtete, sah ich ein Rad neben den Wesen auf der Erde an ihren vier Seiten.1213
16 Die Räder und ihre Gestaltung hatten das Aussehen von Chrysolith. Alle vier hatten ein und dieselbe Gestalt. Sie sahen aus und waren so gearbeitet, als ob ein Rad mitten durch das andere ginge.
17 Wenn sie liefen, konnten sie sich nach allen vier Seiten hin bewegen. Sie brauchten beim Fahren nicht zu wenden.
18 Ihre Felgen waren sehr hoch und schrecklich anzuschauen. Ringsum waren die Felgen voll Augen bei allen Vieren.14
19 Wenn die Wesen sich vorwärts bewegten, liefen auch die Räder neben ihnen, und wenn sich die Wesen von der Erde erhoben, erhoben sich auch die Räder.15
20 Wohin der Geist sie zu gehen antrieb, dahin gingen die Räder, die sich zugleich mit ihnen erhoben: denn der Geist der Wesen war in den Rädern.
21 Bewegten sich die Wesen, so gingen die Räder mit; blieben sie stehen, so standen auch diese still. Erhoben sich jene von der Erde, so erhoben sich die Räder gleichzeitig mit ihnen; denn der Geist der Wesen war in ihnen.
22 Über den Köpfen der Wesen war eine Art Firmament aus staunenerregendem Kristall zu schauen, das sich über ihren Häuptern oben ausbreitete.1617
23 Unterhalb des Firmamentes waren ihre Flügel ausgespannt, die einen zu den anderen, zwei von jedem; die zwei anderen, die sie hatten, bedeckten ihre Leiber.18
24 Ich hörte das Rauschen ihrer Flügel, das dem Rauschen vieler Wasser, dem Donner des Allmächtigen glich. Wenn sie gingen, glich das laute Rauschen dem Getöse eines Heerlagers.19
25 Wenn sie stillstanden, hingen ihre Flügel schlaff herab. Und es erscholl eine Stimme oberhalb des Firmamentes, das über ihren Häuptern war. Wenn sie stillstanden, hingen ihre Flügel schlaff herab.

Die Herrlichkeit Gottes

26 Oberhalb des Firmamentes, das sich über ihren Häuptern befand, war etwas, das aussah, wie Saphirstein und einem Thron glich. Auf dem, was einem Thron glich, war eine Gestalt, die wie ein Mensch aussah, oben darauf.2021
27 Ich sah etwas wie leuchtendes Gold, etwas, das wie Feuer aussah, das ringsum ein Gehäuse hat. Von dem Teil an, der wie seine Hüften aussah, nach oben zu, und von dem Teil, der wie seine Hüften aussah, nach unten zu, schaute ich etwas wie Feuer. Ein Lichtglanz war rings um ihn her.
28 Wie der Regenbogen aussieht, der an Regentagen erscheint, so sah der Lichtglanz rings um ihn aus. Dies war das Aussehen der Erscheinung der Herrlichkeit des Herrn. Ich sah sie und fiel auf mein Angesicht nieder. Da hörte ich die Stimme eines, der redete.2223
1 V. 1 - 2: Worauf sich das >dreißigste Jahr< bezieht, ist nicht klar. Am ehesten dürfte damit das Lebensalter des Propheten gemeint sein. Das Jahr der Wegführung des Königs Jojachin in die Gefangenschaft nach Babel ist das Jahr 598 v.Chr. (vgl. 2Kön 24, 10 - 16). Der vierte Monat ist der Tammus (von Mitte Juni bis Mitte Juli). Ezechiel wäre demnach am 20. Juni 593 v.Chr. zum Propheten bestellt worden.
2 ℘ Ez 3, 23;Ez 10, 15. 20. 22;Ez 43, 3
3 Der Fluß Kebar dürfte mit dem Nar Kabari, einem Eufratkanal südöstlich von Babel, dem heutigen Schatt-En-Nil, identisch sein.
4 ℘ Ez 3, 22;Ez 8, 1;Ez 33, 22;Ez 37, 1;Ez 40, 1
5 V. 4 - 28: Zuerst gibt der Prophet den Gesamteindruck seiner visionären Schau wieder, erkennt und beschreibt dann im folgenden auch Einzelheiten, fühlt sich aber doch nicht imstande, das Geschaute genau in Worte zu fassen. Darauf deuten die Umschreibungen >ähnlich<, >wie<, >als ob< hin.
6 ℘ 4 - 28 # Ez 10, 8 - 17§Jer 4, 6;1Kön 19, 11;Nah 1, 3;Jes 10, 7
7 V. 5 - 14: Ezechiel kann zunächst vier Gestalten erkennen, die wohl menschenähnlich sind, aber je vier Gesichter und vier Flügel haben, unter denen Menschenhände sichtbar sind. Diese Wesen nehmen zueinander eine solche Stellung ein, daß sie durch die beiden Flügel, die jedes ausgestreckt hält, zusammen ein Viereck bilden. Bei allen ist das Menschengesicht nach außen gekehrt, das Adlergesicht nach innen. Löwen- und Stiergesicht nach recht und nach links. Demnach steht je ein Wesen in der Mitte einer jeden Viereckseite. Weil die Wesen aber nach allen vier Seiten hin Gesichter haben, können sie sich auch nach allen vier Himmelsrichtungen hin bewegen, ohne sich umwenden zu müssen. Die vier Wesen - in Ez 10, 20 werden sie als >Kerubim< bezeichnet - symbolisieren in ihrer äußeren Erscheinungsform wohl Vernünftigkeit (Menschengestalt und Menschengesicht), Hoheit (Löwengesicht); Kraft (Stier) und Schnelligkeit (Adler). - In der Mitte des von den Wesen gebildeten Vierecks sieht der Prophet sodann eine funkelnde Feuermasse, aus der es leuchtet und zuckt wie von Fackeln und Blitzen.
8 ℘ Offb 4, 7
9 Die vier Wesen erinnern an die assyrischen >Karibu< (vgl. den entsprechenden Namen für die >Kerubim< der Bundeslade, Ex 25, 18), Mischgestalten aus Menschenkopf, Löwenleib, Stierfüßen und Adlerflügeln, deren Statuen als Schützer an den babylonischen Palästen standen. Diese Dienstwesen der heidnischen Götter sind hier an den Thronwagen des Gottes Israels gespannt- ein wirkungsvoller Ausdruck für die Transzendenz Jahwes. - Die vier Wesen der Apokalypse, Offb 4, 7f usw., nehmen die Züge der vier Wesen von Ezechiel wieder auf. - Die christliche Überlieferung hat aus ihnen Sinnbilder der vier Evangelisten gemacht.
10 ℘ Jes 6, 2
11 ℘ Ex 19, 18
12 V. 15 - 21: Neben den vier Wesen befindet sich je ein Rad, das so aussieht, als bestehe es aus zwei sich im rechten Winkel schneidenden Rädern, so daß der so gebildete Thronwagen sich ebenfalls, ohne wenden zu müssen, nach allen vier Himmelsrichtungen hin bewegen kann. Da aber die Richtung, in der die Bewegung geschieht, sowohl bei den Wesen als auch bei den Rädern durch ein und dieselbe göttliche Geisteskraft bestimmt wird, erfolgt sie völlig einheitlich. - Der Thronwagen versinnbildet die universale Macht Gottes, dem die ganze Welt und nicht bloß das kleine Judäa gehört. - Die Augen symbolisieren die Allwissenheit Gottes.
13 ℘ 15 - 17 # Ez 10, 9 - 13
14 ℘ Offb 4, 8
15 ℘ Ez 10, 16f
16 V. 22 - 28: Wesen und Räder bilden jedoch nur den unteren Teil der visionären Erscheinung. Ezechiel erkennt sie als Träger von etwas gewaltig Großem und Geheimnisvollem, das sich über ihnen befindet. Er erblickt dort >eine Art Firmament<, d.h. ein Abbild des Himmelsgewölbes (vgl. Gen 1, 6;Ijob 37, 18), in kristallener Klarheit vor leuchtendem Saphirblau. Über der Himmelskuppel schaut er schließlich eine in überirdischer Herrlichkeit thronende Gestalt, die wie in Licht und Feuer gekleidet ist.
17 ℘ Ez 10, 1;Ex 24, 10;Offb 4, 6
18 ℘ Jes 6, 2
19 ℘ Ez 10, 5
20 Gerade über dem >unreinen< Land der Verbannung, auf >fremder Erde< offenbart sich Gott als der gewaltig erhabene Herr über alle Welt. Er ist an kein Land gebunden.
21 ℘ Offb 4, 2f;Ex 24, 10;Ez 8, 2;Offb 1, 13;1Sam 4, 4
22 Der Regenbogen ist das Sinnbild der Gnade und Versöhnung (vgl. Gen 9, 13 - 16).
23 ℘ Ex 24, 16. 17;Ex 40, 35;2Chr 7, 1 - 3;Ex 16, 10;Ez 43, 1 - 5;Sir 49, 8;Jes 60, 1;Hab 2, 14