Hab 1

Einführung in das Buch Habakuk





Das Unrecht in der Welt und der gerechte Gott



Rätselhaft und geheimnisvoll wie der Name dieses Propheten ist auch die Schrift, die seinen Namen trägt.



Vor allem ist bis heute ungeklärt, welches Volk mit den "Chaldäern" gemeint ist, von denen gleich zu Beginn (Hab 1, 6) die Rede ist. Ist darunter wirklich das babylonische Volk (und seine Kriegsmacht) zu verstehen? Oder aber ist diese Bezeichnung nur als Deckname für einen anderen späteren Feind gebraucht? Je nach der Beantwortung dieser Frage richtet sich nämlich die zeitliche Ansetzung des Habakuk, von dem wir außer seinem seltsamen Namen nichts anderes wissen.



Unabhängig von der zeitlichen Einordnung ist jedoch die Frage, die den Propheten selbst bedrängt. Es ist die alte und stets neue Frage nach der Gerechtigkeit Gottes bei all dem Unrecht, das in der Welt geschieht, - oder genauer gefaßt, die Frage, wie der heilige Gott auch die Gottlosen zu Werkzeugen seines Gerichtes machen könne, das dann wahllos Böse und Gute trifft. Dahinter lauert schließlich, unheimlich drohend, die letzte Frage, ob es so überhaupt Sinn habe, sich gläubig auf Gott zu verlassen.



Stellvertretend für sein Volk steht der Prophet die Qual dieser Fragen durch. In einem Zwiegespräch mit Gott bringt er seine Anfechtungen vor - immer jedoch bereit, zu sehen, was Gott ihn sehen, und zu hören, was Gott ihn hören läßt (vgl. Hab 2, 1).



So kommt der Prophet schließlich zur Einsicht, daß vom letzten Geschichtsziel Gottes her der Glaube doch gerechtfertigt ist und das Vertrauen nicht enttäuscht wird. Nur muß die Geduld der Menschen der Langmut Gottes entsprechen ("Gottes Mühlen mahlen langsam..."). Der Prophet weiß nun: Wer glaubt, hat Bestand (Hab 2, 4). Mit einem Hymnus, in dem Habakuk in gewaltigen Bildern diese so gewonnene Zuversicht ausspricht, klingt das Büchlein aus. -



So kann die Schrift des Habakuk über die Zeiten hin Licht und Trost in der Anfechtung sein und den Weg zeigen, durch alle quälenden Zweifel hindurch die Haltung unerschütterlichen Glaubens zu gewinnen.



In Jesu Leidenslos ist für sein Volk noch einmal mit aller Schärfe dieselbe Frage aufgebrochen: "Er hat auf Gott vertraut; der möge ihn nun retten!" (vgl. Ps 22, 9§Mt 27, 43). Aber dann kann Paulus im Glauben an den am Kreuz Gerichteten und von Gott Auferweckten das Wort, das bei Habakuk aufklingt (Hab 2, 4) zur letzten christlichen Tiefe führen (vgl. Röm 1, 17;Gal 3, 11). Bei Johannes aber ist die Zuversicht des christlichen Weltverständnisses in den einen Satz gefaßt: "Das ist der Sieg, der die Welt überwindet: unser Glaube!" (1Joh 5, 4).





Das Buch Habakuk

Das Unrecht in der Welt und der gerechte Gott

1 Ausspruch, den der Prophet Habakuk in einer Vision empfing.1

Erstes Zwiegespräch zwischen dem Propheten und Gott

Des Propheten Frage (Wo bleibt Gottes Gerechtigkeit?)

2 Wie lange schon, Herr, rufe ich um Rettung? Doch du hörst nicht. Ich schreie dir zu: "Gewalttat!" Doch du hilfst nicht.23
3 Was läßt du mich Arges schauen und siehst der Bedrückung zu? Zerstörung, Gewalttat habe ich vor Augen. Streit entbrennt, Zwietracht erhebt sich.4
4 Deshalb kommt das Gesetz außer Kraft, das Recht tritt in Ewigkeit nie mehr zutage; denn der Frevler umgarnt den Gerechten. Deshalb ergeht verkehrtes Gericht.

Gottes vorläufige Antwort: (Hinter allem Geschehen steht ein göttlicher Plan)

5 Schaut auf die Völker! Blickt hin! Staunt und erstarrt! Denn ein Werk wirkt einer in euren Tagen. Ihr glaubtet es nie, würde es euch erzählt.56
6 Denn siehe, die Chaldäer will ich erwecken, das grimmige, hurtige Volk, das die Weiten der Erde durchzieht, um Wohnsitze, die nicht sein, zu erobern.78
7 Schrecklich ist es und furchtbar. Es kennt nur das eigene Recht und Gesetz.
8 Schneller als Panther sind seine Pferde, rascher als Wölfe am Abend. Seine Reiter sprengen heran. Seine Reiter kommen von fernher. Sie fliegen dahin wie der Adler, der sich auf Fraß stürzt.9
9 Ein jeder geht aus auf Gewalttat. Ihr Angesicht glüht wie der Ostwind. Wie Sand raffen sie zusammen Gefangene.10
10 Sie spotten der Könige, lachen der Fürsten. Sie verlachen jede Festung, häufen einen Wall auf und nehmen sie ein.
11 Dann brausen sie dahin wie der Wind und ziehen weiter mit Frevel. Die eigene Kraft gilt ihnen als Gott.1112

Zweites Zwiegespräch zwischen dem Propheten und Gott

Des Propheten Frage (Wie verträgt es sich mit Gottes Heiligkeit, daß er seinen Plan von Gottlosen vollstrecken läßt, die wahllos Schuldige und Unschuldige vernichten?)

12 Bist du nicht, o Herr, von Ewigkeit her mein Gott, mein Heiliger? Wir werden nicht sterben. Herr, nur zum Gericht hast du sie bestimmt. O Fels, bestellt hast du sie zum Strafen.1314
13 Zu rein sind deine Augen, Böses mitanzusehen. Nicht vermagst du Unrecht zu schauen. Was siehst du den Gottlosen zu und schweigst, wenn Böse die Besseren verschlingen?
14 Du machtest die Menschen (für ihn) wie Fische im Meer, wie Gewürm, das keinen Herrn hat.1516
15 Mit der Angel zieht er sie alle hoch, rafft sie ins Netz, sammelt sie in sein Garn. Fröhlich ist er darüber und jubelt.17
16 Darum opfert er seinem Netz, bringt Rauchopfer dar seinem Garn. Denn fette Beute schuldet er ihnen, seine üppige Speise.18
17 Soll er sein Netz denn immerfort leeren, erbarmungslos morden die Völker?1920
1 >Spruch< - vgl. dazu die Anm. zu Jer 23, 33 - 40.
2 V. 2 - 4: Der Prophet hat vermutlich innerjüdische Verhältnisse im Auge. Die Reichen und Mächtigen bedrücken die Armen und Schwachen. Unterdrückung und Ausbeutung, Rechtsverdrehung und Rechtsverletzung sind an der Tagesordnung. Das ganze öffentliche Leben ist korrupt. Warum greift Gott nicht ein? Ihm fehlt es doch nicht an der Macht! Wo bleibt seine Gerechtigkeit?
3 ℘ Ijob 19, 7
4 ℘ Ps 55, 10 - 12;Amos 3, 9f
5 Gott richtet an den Propheten (und an das Volk) die Aufforderung, über die eigenen engen Grenzen hinauszuschauen in das große Geschehen, das sich nach seinem Willen in der Völkerwelt abzuspielen beginnt.
6 ℘ 5 - 11 # Amos 3, 11;Jes 10, 5 - 27;Jer 5, 14 - 19;Dtn 28, 47f;2Kön 24, 2 - 4;Jer 25, 9;Jer 27, 6;Jer 43, 10
7 Zu >Chaldäer< vgl. die Anm. zu Dan 1, 4. - Der glühende Ostwind (vgl. dazu die Anm. zu Jona 4, 8), der den Sand aufwirbelt und ihn auf weite Entfernungen hin mit sich führt, steht als Bild des Eroberervolkes, das andere Völker überfällt und sie in die Gefangenschaft führt.
8 ℘ Jes 5, 26 - 29;Jes 13, 17f;Jer 4, 5 - 7. 13. 16f;Jer 5, 15 - 17;Jer 6, 22 - 24;Nah 3, 2f;Ez 23, 22 - 26;Ez 28, 7 - 10
9 ℘ Zef 3, 3
10 ℘ Hos 12, 2;Hos 13, 15;Jer 18, 17;Ez 17, 10
11 Hier beginnt sich schon abzuzeichnen, daß der Eroberer den Auftrag Gottes weit überschreitet und in frevelhafter Selbstüberhebung seine Erfolge der eigenen Kraft zuschreibt (ähnlich Jes 10, 13 - 15).
12 ℘ Jes 10, 13
13 V. 12 - 13: Die zweite Frage des Propheten zielt tiefer: Wie kann der heilige Gott, der >Fels< (vgl. Dtn 32, 4;2Sam 23, 3), auf den man bauen kann, es zulassen, daß nun erst recht die Gerechtigkeit verletzt wird, weil der Vollstrecker des Strafgerichtes schlimmer ist als seine Opfer und sie alle ohne Unterschied wegrafft?
14 ℘ Dtn 33, 27;Ps 90, 1f
15 V. 14 - 15: Der Sinn dieses Bildes vom Fischer und den Fischen: Gott selbst bietet die Menschen dem grausamen Eroberer gleichsam zum Fraß an.
16 ℘ Ez 29, 4f
17 ℘ Koh 9, 12;Ez 32, 3;Ps 9, 16;Ps 10, 9
18 Der Eroberer vergöttert sein >Netz<, d.h. seine Kriegsmacht, die ihm solch gewaltige Beute beschert hat (vgl. oben V.11).
19 Soll also der Gottlose sein grausames Tun fortsetzen können, ohne daß Gott gegen ihn einschreitet? - Der Vers lautet nach dem Qumran-Text: "Darum zückt er unablässig sein Schwert, um ohne Erbarmen die Völker zu morden."
20 ℘ Ijob 19, 6;Ps 124, 7