Hld 1

Einführung in das Hohelied





Israel: Gottes Braut



Der Bundesschluß Gottes mit Israel ist eine Tat göttlicher Liebe (vgl. Dtn 7, 7f;Dtn 10, 15). Zur Gegenliebe ist Israel aufgerufen (vgl. Dtn 6, 4;Dtn 10, 12).



Es kann daher nicht wundernehmen, daß sich von der bräutlich-ehelichen Liebe zwischen Mann und Frau ein Weg auftut, um das innig-persönliche Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk lebendig-anschaulich darzustellen.



Unter den Propheten sind es besonders Hosea (Hos 2, 17 - 20) und Jeremia (Jer 2, 2;Jer 3, 20), die den Sinaibund als Ehebund Gottes mit Israel zeichnen und die Untreue des Volkes durch Abfall und Götzendienst als Ehebruch brandmarken.



Man tut gut daran, sich dies vor Augen zu halten, wenn man das Hohelied liest. Denn mag diese Liedersammlung ursprünglich auch die irdische Liebe feiern, so ist sie doch abschließend durch ihre Aufnahme in die Reihe der alttestamentlichen Schriften auch auf den Liebesbund des göttlichen Eheherrn mit seiner Brautnation Israel bezogen. Man wird sich dabei allerdings hüten müssen, die Gleichnissprache verhüllter Anspielungen mit ihrer der Liebesdichtung im allgemeinen eigentümlichen Vorliebe für fremdartige (exotische) Bilder in allen Einzelheiten auf die Geschichte Gottes mit Israel zu beziehen.



Im Neuen Testament wird der Liebesbund zwischen Gott und seinem auserwählen Volk zur bräutlichen Gemeinschaft zwischen Christus und seiner Kirche. So hat das Hohelied auch einen vorbildlichen Sinn. Von seinem Vorläufer wird Christus als der Bräutigam angekündigt, der die Braut hat (vgl. Joh 3, 29). Christus selbst wendet das gleiche Bild auf sich an (vgl Mt 9, 15;Mk 2, 19;Lk 5, 34). Bei Paulus (2Kor 11, 2;Eph 5, 21 - 32) und in der Geheimen Offenbarung (Offb 19, 7;Offb 21, 2;Offb 22, 17) erscheint de Kirche im Bild der Braut.



Die christliche Mystik aller Jahrhunderte hat das Hohelied auf den Liebesbund zwischen Gott und der Menschenseele gedeutet. Die Liturgie bezieht die schönsten Verse der Dichtung mit Vorliebe auf Maria, die jungfräuliche Magd Gottes und Mutter Jesu.

Das Hohelied

Israel: Gottes Braut

1 Das Hohelied Salomos.1

Braut:

2 Ach könnte ich mich laben am Kuß deines Mundes! - Denn süßer als Wein ist dein Kosen.23
3 Voll Wonne der Duft deiner Salben, wie ausgesprengt Öl dein Name - darum fliegt die Liebe der Mädchen dir zu.45
4 Zieh mich zu dir! Wir wollen uns eilen! Führe mich, König, in dein Gemach! - Jubelnd wollen wir deiner uns freuen. Höher als Wein feiern deine Liebe! - Du bist ja wert aller Liebe!
5 Gebräunt bin ich, doch schön, Töchter Jerusalems, gleich Kedars Zelten, gleich den Zeltbehängen von Schalma.6
6 Beachtet nicht, daß ich schwarzbraun, daß mich die Sonne gebräunt! Hart setzten mir zu meiner Mutter Söhne: Zur Hüterin des Weinbergs machten sie mich - den eigenen Weinberg konnte ich nicht hüten.7
7 Nun künde mir du, dem mein Herz gehört: Wo steht deine Herde, wo läßt du lagern am Mittag? Nicht umherirren möchte ich bei den Herden deiner Gefährten.8

Bräutigam:

8 Weißt du es nicht, Schönste der Frauen: Folge der Herden Spur, treibe deine Zicklein zur Weide bei den Zelten der Hirten!9
9 Dem Edelgespann an Pharaos Wagen möchte ich dich, meine Freundin, vergleichen;10
10 Wie schön stehen die Perlschnüre deinen Wangen, deinem Hals das Band von Korallen!
11 Fertigen wollen wir dir ein Gehänge von Gold, behangen mit silberner Zierat!

Braut:

12 Wenn der König an der Tafelrunde ruht, haucht köstlichen Duft meine Narde.11
13 Einem Beutel mit Myrrhe, der ruht an meiner Brust, gleicht mein Geliebter.12
14 Einer Zyperdolde gleicht mein Geliebter in den Rebenhängen En-Gedis.13

Bräutigam:

15 Wie schön du bist, meine Freundin! Wie bist du schön! - Gleich den Tauben sind deine Augen.

Braut:

16 O, wie bist du schön, mein Liebster, fürwahr verlockend! Zum Lager wird uns das frische Grün,
17 zum Hausgebälk die Zedern, die Zypressen zur Täfelung der Wände.1415
1 Vgl. das in der Einführung Gesagte.
2 Der palästinensische Wein ist sehr süß und stark.
3 ℘ Hld 4, 10
4 Wohlriechende Salben und Öle, die erst beim Ausgießen aus den wohlverschlossenen Gefäßen ihren Duft zur Geltung bringen, sind in der Bibel oft verwendete Bilder für Segen, Kraft, Freude, oder wie hier, für berauschenden Reiz (vgl. Ps 23, 5;Ps 45, 8;Ps 92, 11). - Der >Name< ist gleichbedeutend mit Wesen (vgl. Gen 1, 5;Gen 2, 19).
5 ℘ Hld 1, 12;Hld 6, 8
6 Zu Kedar vgl. die Anm. zu Jdt 1, 8. - Schalma ist der Name eines nordarabischen Beduinenstammes. Die Bedachung der Beduinenzelte besteht noch heute aus Tüchern, zu deren Herstellung die schwarzbraunen Haare der Ziege gebraucht werden.
7 ℘ Jes 5, 1
8 ℘ Gen 37, 16;Ps 23, 1 - 3;Joh 10, 1 - 27
9 ℘ Jer 31, 21
10 Der Pharao galt als Inbegriff eines reichen, prachtliebenden Herrschers.
11 ℘ Hld 1, 3
12 Die Myrrhe, eine Harzart, wurde wegen ihres Wohlgeruches von den Frauen in kleinen Täschchen auf der Brust getragen.
13 Die stark duftende Zyperblume wuchs in den Weinbergen der Oase En-Gedi am Westrand des Toten Meres.
14 Das kostbare Holz der Zedern und Zypressen aus dem Libanon wurde auch zum Ausschmücken des Tempels gebraucht (vgl. z.B. 1Kön 5, 20 - 22;1Kön 6, 15f).
15 ℘ Hld 3, 9