Jer 1

Einführung in das Buch Jeremia





Gottes verschmähte Liebe



Über keinen Propheten sind wir, was seine Person betrifft, so gut unterrichtet wie über Jeremia. Das ist vor allem das Verdienst seines treuen Schülers und Freundes Baruch, der als Augenzeuge viele Einzelheiten, besonders aus dem späteren Leidensschicksal seines Meisters, aufgezeichnet hat.



Doch auch Jeremia selbst läßt uns wie kein anderer Prophet in sein Inneres schauen. Immer schwingt in den Worten seiner prophetischen Botschaft eine persönliche Note mit, die aus der Tiefe seines seelischen Erlebens kommt und ihn uns auch menschlich nahebringt.



Jeremia entstammt einem alten Priestergeschlecht, das in Anatot, einem etwa 7 km nordöstlich vom Jerusalem gelegenen Dorf, ansässig ist. Dort, in ländlicher Umgebung, hat er sicherlich auch seine erste Jugend verbracht. Im dreizehnten Regierungsjahr des Königs Joschija (627 v.Chr.) wird er, ein Jüngling noch, überraschend und gegen sein Widerstreben zum Propheten berufen (vgl. Jer 1, 4 - 10). Doch dann macht der seiner Veranlagung nach eher schüchterne und gemütstiefe Mann vierzig Jahre hindurch in Jerusalem das wahr, wozu Gott ihn berufen hat: zu sein "eine feste Burg, eine eiserne Säule, eine eherne Mauer wider das ganze Land, wider Judas Könige, wider seine Großen, wider seine Priester und wider des Landes Volk" (Jer 1, 18).



Es ist äußerlich eine Zeit entscheidender machtpolitischer Umwälzungen im Alten Orient. Rund ein Jahrhundert zuvor hat Jesaja die Assyrergefahr heraufziehen sehen und in der Vollmacht Gottes als Strafgericht für Israel gedeutet. Nun erlebt Jeremia den Zusammenbruch des assyrischen Großreiches (612 v.Chr. Fall Ninives) und den Aufstieg und die Ausdehnung des aus blutigen Kämpfen um das Erbe hervorgehenden neubabylonischen Reiches unter Nabopolassar. Mitten im Hin-und-Her-Wogen der feindlichen Heere liegt der kleine judäische Staat, der, im Innern gespalten, sich in immer neue politische Ränkespiele, vor allem mit Ägypten gegen Babylon, einläßt und schließlich daran zugrunde geht.



In früher Jugend hat Jeremia die für einen Priestersohn doppelt schmerzliche Zeit des offenen Abfalls vom Gottesbund unter König Manasse noch miterlebt. In die Zeit seines prophetischen Wirkens fällt die Reform unter König Joschija (2Kön 23, 1 - 27), die wieder in Frage gestellt ist, als der König in der Schlacht bei Megiddo den Tod findet (609 v.Chr.). Obwohl in Jerusalem Unrecht und Unmoral überhand nehmen, glaubt das Volk, durch einen veräußerlichten, mit abergläubischen und götzendienerischen Elementen vermischten Gottesdienst des göttlichen Schutzes sicher zu sein. Die politischen Führer sind schwach, die Priester ohne Rückgrat, und falsche Propheten vernebeln das Denken des Volkes noch mehr und wiegen es in trügerische Sicherheit.



Gegen all das erhebt Jeremia in der Kraft seiner Sendung laut und unerschrocken seine Stimme. Furchtbar sind die Anklagen, die er dem treulos gewordenen und in seiner Verblendung verharrenden Volke entgegenschleudert. Furchtbar sind auch die Bilder, die er vom kommenden Strafgericht zeichnet. Das Volk hat den Bund gebrochen und Gott verlassen. Deswegen verläßt Gott nun sein Volk und gibt es den Feinden preis. Keine Fürbitte kann Gott mehr bewegen, sein Strafgericht rückgängig zu machen (vgl. Jer 11, 14; Jer 15, 1). Jerusalem wird fallen, der Tempel wird zerstört werden und das Volk muß das Land der Verheißung verlassen und in die Verbannung nach Babel ziehen. Die "Gottesgeißel" aber, die das Strafgericht vollstrecken wird, ist der babylonische König. Das einzige, wozu Jeremia noch raten kann, ist: das Gottesgericht anzunehmen und sich dem Joch Babels im Geiste der Buße zu beugen. Aber gerade dieser Rat trägt dem Propheten erbitterte Feindschaft ein. Man beschimpft ihn öffentlich als Landesverräter. Er wird eingekerkert und entgeht mit knapper Not dem Tode (vgl. Jer 37§Jer 38). Als dann Jerusalem fällt, wird Jeremia zwar gerettet, doch in den folgenden Wirren von seinen eigenen Landsleuten nach Ägypten verschleppt (Jer 43, 6). Dort verlieren sich seine Spuren.



Man könnte nun glauben, Jeremia sei durch die Härte der göttlichen Botschaft innerlich langsam ein anderer geworden. Doch das ist nicht der Fall. Auch als Prophet, der Gottes Zorn ausgießen muß, bleibt er der Mann mit dem weichen, verwundbaren Herzen, der sein Volk und die heilige Stadt vom Grund seiner Seele liebt.



Wie für Jesaja das Erlebnis der Heiligkeit Gottes die bestimmende Mitte ist, so ist für Jeremia die Erkenntnis der Liebe Gottes der Grundton, der seine Botschaft durchzieht. Gott hat Israel zum Bund angenommen, weil er Israel liebt. Das Volk aber hat in unglaublicher Verblendung (vgl. Jer 2, 10 - 13) Gottes Liebe verschmäht und verraten. Zum Sachwalter der verratenen Liebe Gottes weiß Jeremia sich bestellt. Wie ihn jedoch der Schmerz um Gottes verschmähte Liebe verzehrt, so schneidet ihm auch das Weh um das unabwendbare Schicksal des Volkes mitten durchs Herz. Diese unaufhörliche innere Qual, die den Propheten auf Schritt und Tritt zermartert, wird in erschütternden Ausbrüchen immer wieder hörbar (vgl. Jer 8, 21 - 23;Jer 15, 10 - 18;Jer 20, 7 - 9).



Doch auch Jeremia sieht über den Untergang hinaus in die Zukunft. Gott hört nicht auf, sein Volk trotz allem zu lieben (vgl. Jer 31, 2f). So darf der Prophet verkünden, daß die Verbannung nicht endgültig ist (vgl. Jer 32, 42 - 45). Nach siebzig Jahren wird Gott das Schicksal Israels wenden (vgl. Jer 25, 12;Jer 29, 10 - 14). Dann wird Gott den alten gebrochenen Bund durch einen neuen ersetzen, einen Bund, dessen Gesetz Gott selbst in das Herz des Volkes schreibt und dessen Heil aus der Vergebung der Sünden kommt (vgl. Jer 31, 31 - 34;Jer 32, 40). Dann wird das ganze Volk wieder geeint sein unter dem König aus Davids Haus, dem guten Hirten voll Weisheit, Recht und Gerechtigkeit (vgl. Jer 23, 1 - 6;Jer 30, 9f).



Jeremia selbst hat veranlaßt, daß seine prophetischen Worte aufgezeichnet worden sind. An einem wichtigen Zeitpunkt seines Lebens hat er dem Baruch seine bisher gehaltenen Reden diktiert (vgl. Jer 36).



Später, vielleicht schon während der Babylonischen Gefangenschaft, ist dann diese Schrift mit den eingangs erwähnten Aufzeichnungen des Baruch und mit noch anderswie gesammelten prophetischen Worten zu einer einzigen Sammlung vereinigt worden. Obwohl sich darin größere zusammenhängende Gruppen herausheben, kann von einer durchlaufenden Gliederung im einzelnen keine Rede sein.

Das Buch Jeremia

Berufung und Auftrag

1 Folgendes sind die Reden Jeremias, des Sohnes Hilkijas, aus dem Priestergeschlecht, das in Anatot im Land Benjamin wohnte.12
2 An ihn erging das Wort des Herrn in den Tagen des Königs Joschija von Juda, des Sohnes Amons, im 13. Jahr seiner Regierung.
3 Es erging an ihn auch in den Tagen des Königs Jojakim von Juda, des Sohnes Joschijas, bis zum Ende des elften Jahres des Königs Zidkija von Juda, des Sohnes Joschijas, bis zur Wegführung der Bewohner Jerusalems im fünften Monat.3

Die Berufungsvision

4 Es erging an mich das Wort des Herrn:4
5 "Ehe ich dich formte im Mutterleib, habe ich dich erkannt. Ehe du kamst aus dem Mutterschoß, habe ich dich geheiligt und dich zum Völkerpropheten bestellt."56
6 Doch ich sprach: "Ach, allmächtiger Herr, sieh doch, ich kann ja nicht reden, ich bin noch zu jung!"7
7 Aber der Herr erwiderte mir: "Sage nicht: >Ich bin noch zu jung!< Geh nur, wohin ich dich sende! Verkünde, was ich dir auftrage!
8 Fürchte dich nicht vor ihnen! - ich bin ja mit dir, dich zu behüten!" - Spruch des Herrn. -8
9 Und der Herr streckte seine Hand aus und berührte meinen Mund. Und der Herr sprach zu mir: "So lege ich denn meine Worte in deinen Mund.
10 Siehe, ich gebe dir heute Vollmacht über Völker und Königreiche, auszureißen und einzureißen, auszurotten und zu zerstören, aufzubauen und einzupflanzen!"9

>Was siehst du, Jeremia?<

11 Darauf erging an mich das Wort des Herrn: "Was siehst du, Jeremia?" Ich antwortete: "Einen Zweig vom >Wachebaum<."10
12 Da sprach der Herr zu mir: "Du siehst recht: Denn ich wache über mein Wort, es zu vollführen."
13 Und wieder erging an mich das Wort des Herrn: "Was siehst du?" Ich antwortete: "Ich sehe einen brodelnden Topf. Seine Öffnung neigt sich von Norden her."11
14 Da sprach der Herr zu mir: "Von Norden her brodelt das Unheil auf über alle Bewohner des Landes.12
15 Denn siehe, ich entbiete alle Stämme der Reiche des Nordens", - Spruch des Herrn. - "Sie kommen und lagern sich insgesamt vor den Toreingängen Jerusalems, vor all seine Mauern ringsum, vor allen Städten von Juda.
16 Da will ich ihnen mein Urteil sprechen ob all ihrer Bosheit: Sie haben ja von mir gelassen, haben anderen Göttern geopfert, haben angebetet ihr eigenes Machwerk.

>Verkünde ihnen alles, was ich dir auftrage...<

17 Du aber gürte die Hüften! Auf, verkünde ihnen alles, was ich dir auftrage. Erschrick nicht vor ihnen, sonst will ich dich schrecken durch sie.13
18 Ich aber - ich mache dich heute zur festen Burg, zur eisernen Säule, zur ehernen Mauer wider das ganze Land, wider Judas Könige, wider seine Großen, wider seine Priester und wider das Volk des Landes.14
19 Bekriegen werden sie dich, doch dich nicht bezwingen. Denn ich stehe dir zur Seite, um dir Rettung zu bringen! "- Spruch des Herrn.
1 Joschija regierte 640 - 609 v.Chr. - Die Berufung des Jeremia erfolgte somit um 627 v.Chr. - Jojakim regierte 609 - 598 v.Chr., sein Sohn Jojachin wurde 598 v.Chr. vom babylonischen König Nebukadnezzar gefangengenommen. Zidkija, der von Nebukadnezzar als König eingesetzt worden war, regierte 598 - 587 v.Chr.
2 ℘ 1Kön 2, 26
3 >...im fünften Monat< - Juli/August 587 v.Chr.
4 Der Bericht, in dem Jeremia selbst im folgenden von seiner Berufung und Sendung spricht, steht - anders als bei Jesaja - am Eingang des Buches. Es ist bezeichnend für die scheue Ehrfurcht des Propheten vor Gottes Geheimnis, daß er sich über die näheren Umstände dieser Gottbegegnung nicht weiter äußert. Gleichwohl muß es ein Erlebnis gewesen sein, das ihn bis in sein sinnlich-leibliches Leben hinein erschüttert hat (V.9). Nicht minder bezeichnend für ihn ist es auch, daß er das kleinmütige Widerstreben nicht verschweigt, mit dem er vergeblich versucht hat, sich Gottes Anspruch zu entziehen. - Weiter berichtet Jeremia, wie durch zwei an sich belanglose alltägliche Wahrnehmungen (V.11.13.) Gott in ihm die Gewißheit hat aufleuchten lassen, daß die zu verkündende Botschaft verläßlich und unabdingbar ist, weil Gott selber über ihr Eintreffen wacht und das Strafgericht über Land und Volk schon genau bestimmt ist: Vom Norden her kommt der Feind! - Kein Lohn wird dem Propheten verheißen. Nur Schweres steht ihm bevor. Doch gibt ihm Gott für sein Amt die Versicherung seines unüberwindbaren Beistandes.
5 >...ich habe dich geheiligt< - vgl. die Anm. zu Ex 29, 44. - Zum >Völkerpropheten< ist Jeremia bestellt, d.h. seine Sendung ist weltweit. Nicht nur für Israel, auch für die Heidenvölker soll er Gottes Plan und Urteil verkünden (vgl. dazu Jer 18, 7 - 10;Jer 28, 8).
6 ℘ Jes 49, 1;Röm 8, 29;Gal 1, 15
7 Ähnlich wie Mose (vgl. Ex 4, 10) sucht Jeremia sich dem göttlichen Auftrag zu entziehen. Ganz anders Jesaja (vgl. Jes 6, 8). - Wohl kein Prophet hat soviel von seinem Innenleben preisgegeben wie Jeremia; vgl. seine >Bekenntnisse<: Jer 11, 18 - 23;Jer 12, 1 - 5;Jer 15, 10 - 21;Jer 17, 14 - 18;Jer 20, 7 - 18).
8 ℘ Jer 1, 19;Jer 30, 11
9 Gottes Wort in Prophetenmund hat geschichtsmächtige Kraft.
10 V. 11 - 12: Mit dem >Wachebaum< ist der Mandelbaum (schaqed) gemeint, der als erster im Frühling ausschlägt, also gleichsam >wach< wird. Das hebräische Wort für >wachen< (schaqad) klingt dem für >Mandelbaum< sehr ähnlich. So kann der Mandelzweig - vom Wortklang her - zum Sinnbild werden, daß Gott über das Wort, das er Jeremia zu künden aufträgt, wacht, d.h. es erfüllen wird.
11 V. 13 - 15: Der überkochende Kessel, der >sich von Norden her neigt<, wird zum Bild des künftigen Einfalls feindlicher Heere aus dem Norden.
12 ℘ Jer 4, 6;Jer 6, 1. 22;Jer 10, 22;Jer 50, 41
13 Gott verlangt vom Propheten Gehorsam, Festigkeit und unwandelbares Vertrauen. Menschenfurcht aber würde ihn seinen Gegnern unterlegen machen.
14 ℘ Jer 15, 20