Jes 1
Die Prophetenbücher
Gottes Boten: Israels Propheten
Neben der Schriftenreihe der Geschichtsbücher steht eine zweite Gruppe von Schriften als geschlossener Block: die Prophetenbücher. Trotz ihrer Eigenständigkeit stellen aber auch sie im Grunde, wenn auch auf besondere Weise, Geschichte dar, ja, sie enthalten sogar, über eine nicht geringe Strecke hin, die wesentlichen Zeugnisse der Geschichte Gottes mit Israel, seinem Volke.
In der Vorschau auf das Wirken der Propheten Elija und Elischa ist bereits darauf hingewiesen worden, daß in den Büchern der Könige als zweite Linie die Reihe der Propheten aufscheint (vgl. dazu auch 2Kön 17, 13; 2Chr 36, 15f.) und daß man jeden dieser Männer am liebsten dort eingereiht sähe, wohin er, dem Ablauf der äußeren Geschichte entsprechend, gehört. So könnten, wie schon bemerkt, die - vom prophetischen "Vorspiel" mit Elija und Elischa abgesehen - meist eintönigen und dürren Angaben der Königsbücher an Farbe und Fülle gewinnen. Vor allem aber würde die enge Verflechtung sichtbar, in der die prophetische Botschaft zur Zeitgeschichte steht, und das Bild der prophetischen Wirksamkeit gewänne auch seinerseits von dorther noch an Lebendigkeit und Tiefe.
Die besondere Art und Weise jedoch, in der die Prophetenbücher Geschichte spiegeln und bezeugen, - nämlich die des gesprochenen Wortes, das als Gottes Wort im Munde seiner Boten die Geschichte Israels begleitet, deutet, richtet und neu der Zukunft öffnet, - rechtfertigt auch ihre Zusammenfassung als gesonderte Gruppe. So haben die prophetischen Schriften den Rest Israels schon nach seiner Rückkehr aus der Babylonischen Verbannung durch seine weitere Geschichte begleitet und auch heute noch kann ihr Zeugnis im geschlossenen Block um so eindrucksvoller in seiner geballten Kraft zur Geltung kommen.
In der Reihe der Prophetenbücher stehen die einzelnen Bücher selbständig nebeneinander. Jede Schrift, wenngleich nach dem Namen eines bestimmten Propheten benannt, hat ihre besondere, oft sehr verwickelte Entstehungsgeschichte. Dem Inhalte nach sind in ihnen die Worte und Reden festgehalten, die von gotterleuchteten Männern jeweils in eine bestimmte geschichtliche Situation hineingesprochen, später allerdings bisweilen wieder aufgegriffen, neu gehört und auf neue Ereignisse bezogen worden sind. Weil Gott als HERR des Heiles der Gott der Geschichte ist, muß sein Wort immer wieder neu gesagt, aber auch immer wieder neu gehört werden.
Es ist üblich, zwei Gruppen von Propheten zu unterscheiden: ältere, die man auch "Tatpropheten" nennt und jüngere, die auch "Schriftpropheten" heißen. Den erstgenannten - Männern wie Natan, Gad, Ahija, Elija, Elischa - sind wir bereits in den Büchern der geschichtlichen Reihe begegnet. Von ihnen ist nur das bekannt, was dort über ihre Taten und Worte erzählt wird. Wenn nun von den Schriftpropheten Wortsammlungen in eigenen Büchern überliefert sind, so darf dieser Umstand nicht zur falschen Vorstellung verleiten, diese Propheten seien Schriftsteller gewesen. Nein, auch sie sind vor allem Männer des unmittelbar gesprochenen, oft in der Auseinandersetzung mit den Gegnern erst zur letzten Schärfe geschliffenen lebendigen Wortes.
Das schließt freilich nicht aus, daß sie hie und da auch schon selbst etwas aufgezeichnet haben oder durch andere haben aufzeichnen lassen. Vor allem läßt sich persönliche Niederschrift für die sogenannten "Ich-Berichte" annehmen. Der Großteil ihrer Verkündigung aber - meist sentenzenhaft kurze, einprägsame Sprüche in der Glut und Farbigkeit orientalischer Bilder - verdankt seine Erhaltung und Aufzeichnung anderen, vermutlich den Kreisen ihrer Jünger oder Schüler. Später sind solche Einzelsprüche dann zu größeren Einheiten zusammengestellt und schließlich zur "Büchern" abgerundet worden. Mit anderen Worten: Wie die meisten Schriften der Bibel sind auch die Prophetenbücher das Ergebnis eines langen Weges der Überlieferung, zurückgelegt im Hören und Bewahren, im Aufzeichnen und Weitergeben, im Sammeln und Zusammenfügen. Daß bisweilen in späterer Zeit noch ein neues Hören, Deuten und Antwortgeben hinzugekommen ist, wurde eben bereits erwähnt.
Was nun aber die Erscheinung der "Prophetie" selbst betrifft, so hat die neuere Erforschung des Alten Orients den Nachweis erbracht, daß sich bei den Völkern in Israels Umwelt äußerlich ähnliche Erscheinungen finden. Sie hat auch wahrscheinlich gemacht, daß von dorther anfänglich sogar ein gewisser Einfluß auf das Auftreten und Gebaren der älteren Propheten in Israel ausgegangen ist. Andererseits steht jedoch fest, daß das voll entfaltete israelitische Prophetentum, wie es sich in der Reihe der Prophetenbücher darstellt, einzigartig und unvergleichbar ist.
Dies kann schon deshalb nicht anders sein, weil Israel selbst in seinem Dasein als Volk einzigartig und unvergleichbar ist. Es ist das Volk der Erwählung, das sich von Gott in geschichtlich einmaliger, personaler Begegnung gerettet und durch den Bundesschluß vom Sinai zu eigen angenommen weiß. Der Gott, der sich ihm so, in Tat und Wort, offenbart, ist JAHWE, der Gott, der da-ist, nicht nur einmal, sondern beständig, der also auch mit-geht, durch die Zeit und ihren Wechsel, und der als der beständig Da-Seiende und getreulich Mit-Gehende sein altes Wort in stets neuer Weise in den Wechsel der Zeit hineinspricht.
Es kann daher auch nicht überraschen, daß die große Zeit der Propheten dort beginnt, wo dieser Wechsel besonders deutlich und verhängnisvoll zutage tritt: in der Zeit der großen inneren und äußeren Veränderungen und Bedrohungen unter den Königen Israels und Judas, dann weitergeht bis zum Untergang Jerusalems, die Zeit bis nach der Rückkehr aus der Verbannung überdauert und erst mit der Festigung der neuen Kultgemeinde in Jerusalem ausläuft. Zu Beginn des Neuen Testamentes wird die prophetische Linie noch einmal sichtbar in Johannes, dem Täufer (vgl. Lk 1, 76; Mt 11, 7 - 15; Lk 7, 26f), um sich in IHM zu vollenden und zu erfüllen, der, wie er der wahre "König" in Israel (vgl. Mt 21, 5; Lk 19, 38; Lk 23, 3), so auch der "wahre Prophet ist, der in die Welt kommen soll" (vgl. Dtn 18, 15. 18§Mt 21, 11; Joh 6, 14; Apg 3, 22).
Nach allem bisher Gesagtem mag es nun blaß und dürftig erscheinen, die Propheten schlicht als "Boten" Gottes zu bezeichnen. Dennoch läßt sich gar nicht treffender darstellen, was sie selbst zu sein beanspruchen und auch wirklich sind: Im Auftrag und in der Vollmacht Gottes, des HERRN des Heiles, überbringen sie dem Volke, das Gott erwählt hat und das Gott zu eigen gehört, Gottes Wort und künden ihm Gottes Tun an. Daß sie dabei wie alle Boten im Alten Orient im "Ich" ihres Auftraggebers sprechen, paßt genau ins Bild.
Es ist uns allerdings nicht möglich, jene Vorgänge selbst zu durchschauen, bei denen die Propheten die göttliche Botschaft empfangen, d.h. wir können nicht ergründen, was sich in ihnen ereignet, wenn Gott sich ihnen mitteilt. Sie selber sprechen bisweilen von einem "Gesicht", das sie geschaut haben, von einem "Wort", das an sie ergangen ist, von der "Hand" Gottes, die sich auf sie gelegt hat. Eines aber steht fest: Nicht in ekstatischem Rausch, sondern in gesteigerter Klarheit des Geistes erfahren sie von Gott her Inhalt und Zielrichtung ihrer Botschaft und mit unbeirrbarer Gewißheit richten sie aus, was ihnen aufgetragen ist. Dabei verfügen sie in der Wahl der sprachlichen Mittel meist über eine geradezu bannende Kraft dichterischer Veranschaulichung.
Es hieße das Wesen der Propheten in Israel schon im Ansatz verkennen, wollte man in ihnen - wie anderswo - vornehmlich Wahrsager oder Zukunftsdeuter sehen. Die landläufige Bedeutung unseres Lehnwortes "Prophet", die dazu verleiten könnte, streift ihr wahres Wesen nur am Rande. Wohl richten auch sie Israels Blick in die Zukunft, aber ihre eigentliche Aufgabe ist es, Gottes Stellungnahme seinem Volke gegenüber darzutun für die jeweilige Gegenwart.
Es wäre auch ebenso falsch, in Israels Propheten die großen schöpferischen Einzelgänger zu sehen: religiöse Neuerer, soziale Reformer, Gegner der kultisch verfaßten Gottesverehrung. Die neuere Forschung hat klar gezeigt, wie fest die Propheten in den sakralen Überlieferungen Israels stehen und wie gerade dies ihre vordringlichste Aufgabe ist, das alte Gottesrecht gegen alle Aufweichungen und Verdrehungen ihrer Zeit zu behaupten und Israel und seine Könige wieder zur Einhaltung der alten Bundespflichten aufzurütteln.
Von Gott her also wissen die Propheten sich berufen zu Hütern des alten Glaubensgutes und bestellt zu Wächtern des heiligen Gottesbundes. Das heißt jedoch nicht, daß ihre Sicht rückgewandt wäre. Im Gegenteil! Gerade weil sie so fest in der Geschichte verwurzelt sind, sind sie offen für die Zukunft, in die diese Geschichte ja hineinführen soll. Darum stellen sie sich mit der ganzen Kraft ihrer Sendung gegen den Grundirrtum des Volkes, das glaubt, mit dem Erreichen der "Ruhe", d.h. mit dem Seßhaftwerden im verheißenen Lande, sei auch Gottes Verheißung am Ziel und nun gelte es, sich darin einzurichten und zu behaupten durch immer weitergehende Anpassung an die Denkart und die heidnischen Kultgebräuche der einheimischen Kanaanäer oder der Völker im Umkreis.
Verstockt und verblendet verkennen Volk und Könige den Sinn ihrer Erwählung, brechen den Bund und verweigern sich Gottes alleinigem Anspruch. Darum schlägt das Segenswort der Verheißung nunmehr im Munde der Boten Gottes in das Fluchwort der tödlichen Drohung um: Die Heilskraft der alten Ordnungen des Bundes ebenso wie das Heilsgut des Landes mit Thron und Tempel sind durch Israels Schuld von Grund auf in Frage gestellt: Heilsgeschichte droht zur Unheilsgeschichte zu werden.
Bei alledem bleibt jedoch erstaunlich, mit welcher Klarsicht die Propheten ihr Volk vor den weltpolitischen Horizont ihrer Zeit stellen, welch waches Gespür sie für machtpolitische Verschiebungen und militärische Vorgänge haben und wie unbestechlich scharf sie wirtschaftliche Entwicklungen und dadurch bedingte soziale Veränderungen und Mißstände beurteilen. Gleichwohl geht es ihnen niemals um Politik oder um soziale Gerechtigkeit als solche, sondern um die Durchsetzung des heiligen Gotteswillens in allen Bereichen des öffentlichen wie privaten Lebens.
Darum erheben sie laute und gezielte Anklagen - mag es sich handeln um die von bloßem Nützlichkeitsdenken bestimmte "realistische" Bündnispolitik der Könige, um den Luxus und das "süße Leben" der herrschenden Kreise, um die himmelschreiende Unterdrückung und Ausbeutung der sozial Schwachen, um Aberglauben und heidnischen Götzendienst und - nicht zuletzt - um die vermeintliche Sicherheit, die dasselbe Volk, das Gottes Willen und Anspruch mit Füßen tritt, sich durch einen veräußerlichten, zum Selbstzweck gewordenen, prunkvollen Gottesdienst zu verschaffen glaubt.
Noch lauter aber erheben sie ihren Ruf zur Umkehr: die unabdingbare Forderung, sich von allem heidnischen Denken und Tun zu lösen, Recht und Gerechtigkeit wieder zur Richtschnur des Lebens zu machen, der falschen Sicherheit selbstgefälliger Frömmigkeit zu entsagen und gläubig und gehorsam wieder verfügbar zu sein für Gottes Anruf.
Weil aber Volk und Führer die Ohren vor Gottes Botschaft verschließen und die Warnungen in den Wind schlagen, sprechen die Propheten mit erschreckender Deutlichkeit Gottes vernichtendes Urteil aus: Israel weigert sich umzukehren. Deshalb bleibt Gott nichts anderes übrig, als nun selbst umzukehren mit seinem Volke - im Bilde gesprochen: Israel muß wieder zurück nach Ägypten (= Babylon)! Der Weg dorthin aber führt durch den Untergang alles Bestehenden. Wenn daher Unheil über Unheil Israel trifft: es sind im Grunde nicht die feindlichen Heere, die dem Volke Elend, dem Lande Verwüstung, dem Staat und dem Königtum den Untergang bringen, sondern es ist Gott selbst, der durch sie, seine Werkzeuge, sein Gerichtsurteil in Israel vollstreckt, um ihm so den Weg in eine neue Zukunft zu öffnen.
In dieser Weise wird - so widerspruchsvoll es auch klingen mag - gerade das Gericht zum Zeichen dafür, daß Gott weiterhin seinen Volke nahebleibt und daß er Israel nicht für immer verstößt oder völlig vernichtet. Aus der verwirklichten Drohung sproßt, erst zaghaft, dann immer kräftiger, das Reis neuer Hoffnung hervor. Wohl wird es nur ein "Rest" sein, der Gottes Gericht übersteht. Diesem Reste jedoch wird mit dem Untergang von Staat und Königtum und mit der dann folgenden Zeit der Verbannung gewissermaßen die "Gnade des Nullpunkts" geschenkt. Gott wird für Israel einen neuen Anfang setzen, nachdem das Volk, wie ehedem in Ägypten, wieder zum Volk des Auszugs geworden ist, gewillt und bereit, mit Gott aufzubrechen, zu neuen Zielen. Dann führt Gott das neue Heil herauf, das über Israel hinaus alle Völker erreicht. Ein neuer Bund löst den alten ab, ein neues Gesetz wird den Menschen ins Herz geschrieben, ein neues Volk Gottes ersteht unter einem neuen König David in einem neuen Jerusalem.
So wird im Wort der Propheten die Geschichte Gottes mit Israel erst in ihrer ganzen Tiefe und letzten Zielsetzung erschlossen. Man würde daher der Bedeutung der prophetischen Botschaft nicht gerecht, wollte man sich damit begnügen, sie als "Weissagung" künftiger Einzelereignisse zu verstehen und sie von deren "Erfüllung" her zu messen und zu bewerten. Hierin liegt nicht das Entscheidende. Ihre bleibende Bedeutung besteht vielmehr darin, daß im Prophetenwort - bald schwächer, bald stärker - über alle Nahziele und Naherwartungen hinaus als gemeinsames Ziel der Geschichte Israels und der Geschichte aller Völker zusammen das Bild einer Endzeit aufleuchtet, in der sich Gottes Heil im Aufbruch der Gottesherrschaft über die ganze Welt verwirklicht.
Deshalb vor allem ist ja das Alte Testament die "Heilige Schrift" der jungen christlichen Kirche - auch nach ihrer Lösung vom mosaischen Gesetz - geblieben, weil im Prophetenwort der von Christus selbst gewiesene Zugang offensteht zu ihm, der die Reihe der Propheten schließt und überbietet - wie der Sohn die Knechte im Gleichnis von den bösen Winzern (vgl. Mt 21, 33 - 37).
Und nachdem früher schon die prophetische Botschaft immer wieder neu gehört und gedeutet worden ist, enthüllt sich nun im neuen Hören und Deuten der Apostel ihr tiefster und letzter Sinn: Im Lichte des Christusereignisses erkennt die christliche Urgemeinde staunend und beglückt, daß das Alte endgültig vergangen und das ganz Neue gekommen ist (vgl. 2Kor 5, 17). Auf diesen Grundton sind alle Schriften des Neuen Testaments gestimmt. Im Leben und im Todesschicksal Jesu Christi sind Gottes Gerechtigkeit und Liebe, Gottes Gericht und Gnade, im Einklang von Kreuzestod und Auferstehung zu der alles überbietenden göttlichen Heilstat für die ganze Menschheit geworden (vgl. Röm 3, 21 - 26). Durch ihn, den erhöhten HERRN, ist die verheißene Gottesherrschaft angebrochen.
Jesus Christus stiftet den neuen und ewigen Bund. Er erwirbt das neue Volk Gottes zu eigen (vgl. 1Petr 2, 9), indem er alle, die glauben, durch den Tod und Untergang des alten Menschen zum neuen Leben in seiner Auferstehung führt (vgl. Röm 6, 3 - 11). Er ist für das Gottesvolk des Neuen Bundes der neue David (vgl. Lk 1, 32; Mt 21, 9; Mt 22, 41 - 45; Offb 5, 5), der neue Mose (vgl. Joh 6, 32; Hebr 3, 2 - 6; Hebr 9, 18 - 24), der neue Adam (vgl. Röm 5, 12 - 21), der Heil für alle in überreicher Fülle bringt.
Der christliche Kanon zählt 17 Prophetenbücher, wobei die Propheten selbst in zwei Gruppen gegliedert sind: "Große Propheten" und "Kleine Propheten".
Die 4 Großen Propheten sind:
Jesaja,
Jeremia (mit den Klageliedern),
Ezechiel,
Daniel.
(Wegen seiner Nähe zu Jeremia zählt man Baruch als 5. Propheten hinzu.)
Die 12 kleinen Propheten sind:
Hosea, Joel, Amos,
Obadja, Jona, Micha
Nahum, Habakuk, Zefanja,
Haggai, Sacharja, Maleachi
Einführung in das Buch Jesaja
Gott, der Heilige Israels
Das nach Jesaja benannte erste große Prophetenbuch setzt sich aus drei verschiedenen Teilen zusammen, von denen nur der erste (Jes 1 - 39) zur Person des geschichtlichen Propheten Jesaja in Beziehung steht. Die beiden anderen Teile gehen auf jüngere Propheten zurück, deren Namen unbekannt sind. Man hat sich daran gewöhnt, sie einfach "Zweiter (Deutero-) Jesaja" (Jes 40 - 55) und "Dritter (Trito-) Jesaja (Jes 56 - 66) zu nennen. Damit ist auch angedeutet, daß die beiden Unbekannten als Geisteserben des "ersten" Jesaja mit Recht in der Sammlung auf ihn folgen.
Über die näheren Lebensumstände des Jesaja, der im ersten Teil des Buches zu Wort kommt, ist nicht allzuviel bekannt. Wahrscheinlich entstammt er einer vornehmen judäischen Familie. Im Todesjahr des Königs Usija von Juda (etwa 740 v.Chr.) zum Propheten berufen (vgl. Jes 6, 1 - 13), übt er, von einigen Unterbrechungen abgesehen, sein prophetisches Amt unter den Königen Jotam und Ahas bis in die Regierungszeit des Königs Hiskija aus (vgl. 2Kön 16§2Kön 18;2Kön 19;2Kön 20).
Jesaja lebt mit seiner Familie als eingesessener Bürger in der Hauptstadt Jerusalem. Zwei Söhne tragen prophetisch-symbolische Namen. Außerdem ist er von einem kleinen Jünger- oder Schülerkreis umgeben (vgl. Jes 8, 16 - 18). Über seinen bürgerlichen Beruf ist nichts bekannt. Seine letzten datierbaren Worte scheinen aus dem Jahre 701 v.Chr. zu stammen. Spätere Nachrichten, die wissen wollen, er habe unter König Manasse (vgl. 2Kön 21, 1 - 18§2Chr 33, 1 - 20) einen qualvollen Martertod durch Zersägen erlitten, sind legendär.
Die im ersten Teil des Buches gesammelten Worte stammen offensichtlich aus ganz verschiedenen Lebensabschnitten des Propheten. Die ersten Jahre nach seiner Berufung sind noch gekennzeichnet von der großen wirtschaftlichen Blüte des Landes, aber auch von ihren üblen Folgeerscheinungen - : von Gewinn- und Genußsucht, rücksichtlosem Sichausleben, sozialer Ungerechtigkeit, veräußerlichter Frömmigkeit, von Aberglauben und Götzendienst. Gegen all das erhebt der Prophet unverhüllte, gezielte Anklagen (vgl. Jes 5, 8 - 24). Vor allem mit den führenden Kreisen Jerusalems geht er schonungslos ins Gericht (vgl. Jes 3, 12 - 15).
Als sich dann durch das Erstarken und Vordringen der assyrischen Großmacht der politische Horizont verdunkelt und eine drohende Schicksalswende sich abzuzeichnen beginnt, erhält die Verkündigung des Jesaja neue Züge: In Assyrien sieht er die "Gottesgeißel" für Israel (vgl. Jes 10, 5f). Kriegsnot und kommendes Elend deutet er als Gottes Strafgericht für sein sündiges Volk.
Nun ist allerdings, als man später daran ging, die Reden des Jesaja zusammenzustellen, ihre zeitliche Aufeinanderfolge kaum maßgebend gewesen für ihre Stellung im Buch. Es läßt sich deshalb meist nur aus dem Inhalt und der Zielsetzung der einzelnen Stücke erschließen, in welchen Lebensabschnitt des Propheten sie gehören könnten.
Um so klarer tritt freilich die geistige Mitte hervor, von der aus alle Worte des Propheten gleichbleibend bestimmt sind. In der Stunde seiner Berufung hat Jesaja Gott als den "Heiligen Israels" geschaut (vgl. Jes 6, 1 - 13). Gott, der "Heilige" - das ist als tiefste Aussage von Gottes Wesen überhaupt zu verstehen. Gott ist der ganz Vollkommene, der über alle irdischen Mängel Erhabene. Alles Außergöttliche ist unheilig, wenn und insoweit es im Widerspruch zu Gott und seinem Willen steht. Bei seiner Berufung ist sich Jesaja der eigenen Unheiligkeit mit tiefem Erschrecken bewußt geworden (Jes 6, 5). So muß er nun mit demselben Maßstab das ganze Volk messen. Denn Gott ist der "Heilige Israels", und das letzte Ziel seines Geschichtshandelns mit Israel ist dies, daß Gottes Heiligkeit alles Unheilige vernichte und Gottes Herrschaftsanspruch sich verwirkliche auf der ganze Erde.
Die Predigt des Jesaja erschöpft sich also ganz und gar nicht in der unerbittlichen Anklage der Sünden seiner Zeit und ebensowenig in der Deutung der Assyrergefahr als des so verschuldeten Strafgerichtes Gottes. Von der Tiefe des Wesens Gottes her legt der Prophet vielmehr das Wesen der Sünde als "Unheiligkeit" bloß, d.h. als Widerspruch und Widerstand des Menschen gegen Gottes Wesen und Willen. Sünde ist Anmaßung und Hochmut, Vertrauen in eigene Einsicht und Pochen auf eigenes Recht und auf eigene Kraft. Deshalb macht sie den Menschen taub für Gottes Wort und blind für die Zeichen der Zeit.
Von dieser letzten Tiefe her hat man es darum auch zu verstehen, wenn Jesaja vor allem "Glauben" fordert (vgl. Jes 7, 9). Damit meint er das unbedingte Stehen zu Gott und seinem Willen und das unverrückbare Festhalten an seinem Wort. So richtet er denn auch in entscheidungsschwerer Stunde vor dem ungläubigen König Ahas ein Zeichen auf, das nur im Glauben zu erfassen ist: das Zeichen des "Immanuel" (Gott-mit-uns) (vgl. Jes 7, 14 - 17).
Aber nicht nur den Hochmut Israels wird Gott zerbrechen (Jes 2, 10 - 22§Jes 3, 1 - 24), auch mit den übrigen Völkern geht er ins Gericht (vgl. Jes 13;Jes 14§Jes 15;Jes 16;Jes 17), vor allem mit Assyrien, das in seiner Anmaßung alle Grenzen überschritten hat (vgl. Jes 10, 12 - 15).
Doch eines weiß Jesaja mit aller Bestimmtheit: Gottes Gericht ist Durchgang zu neuem Heil. Ein "heiliger Rest" wird das Läuterungsfeuer überdauern. (Jes 4, 3f). Aus dem Wurzelstumpf Isai, d.h. aus dem tief gedemütigten davidischen Königshaus, wird neues Leben sprossen (Jes 11, 1;Jes 4, 2).
So läuft die Verheißung des Jesaja unverkennbar in eine messianische Spitze aus. Der kommende König aus Davids Haus (Jes 9, 5), der geistbegabte Friedensfürst der Zukunft (Jes 11, 2 - 10), ein neues geläutertes Jerusalem als Mittelpunkt des Heiles und des Friedens für alle Völker (Jes 2, 2 - 5) - : das sind die ragenden Gipfel seiner weitgespannten Zukunftsschau.
Frühere Zeiten haben in Jesaja eine Art "Evangelisten" des Alten Bundes gesehen. (Dabei hat man freilich auch die Lieder vom "Gottesknecht" im zweiten Teil des Buches miteinbezogen.) Aber auch heute bleibt bestehen, daß in den Worten des "größten aller Propheten" durch die Drohbotschaft von Gericht und Verderben sich sieghaft klar die Frohbotschaft von der Erlösung und Heiligung des sündigen Menschen in einem kommenden Gottesreich durchsetzt. Und wir, die wir die Erfüllung im Neuen Bund kennen, sind gewiß, daß dieses Gottesreich durch den Glauben an Jesus Christus, den wahren "Gott-mit-uns", bereits angebrochen ist.
Das Buch Jesaja
I. Teil: Die Schrift des >Ersten (Proto-)< Jesaja | Gott, der Heilige Israels
Gottes Gericht über sein unheiliges Volk
1 Vision des
Jesaja, des Sohnes des
Amoz, die er über Juda und Jerusalem schaute in den Tagen der Könige von Juda:
Usija,
Jotam,
Ahas und
Hiskija.
12
2 Hört, ihr Himmel! Horch auf, du Erde! Denn der Herr hat gesprochen: "Kinder habe ich großgezogen und hochgebracht. Sie aber sind mir untreu geworden.
3
3 Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn. Nur Israel hat keine Erkenntnis, mein Volk keine Einsicht!"
45
4 Wehe, sündiges Geschlecht, schuldbeladenes Volk, Brut von Frevlern, entartete Kinder! Sie haben den Herrn verlassen, gelästert den Heiligen Israels, ihm den Rücken gekehrt.
67
5 Worauf noch soll man euch schlagen, da ihr den Abfall fortsetzt? Ganz krank ist das Haupt. Ganz siech ist das Herz.
8
Folgen des Abfalls von Gott
6 Vom Fuß bis zum Scheitel ist nichts daran heil - nur Beulen, Striemen und frische Wunden. Man hat sie nicht ausgedrückt, nicht verbunden, nicht gelindert mit Öl.
7 Euer Land ward zur Wüste. Eure Städte wurden vom Feuer verzehrt. Eure Äcker: Fremde zehren davon vor euren Augen. Eine Wüste ist es wie bei
Sodoms Zerstörung.
9
8 Nur die Tochter
Zion blieb übrig, wie eine Hütte im Weinberg, wie ein Wachthaus im Gurkenfeld, wie ein Wachtturm.
1011
9 Ja, hätte der Herr der Heerscharen uns nicht einen Rest gelassen: Wir wären fast wie
Sodom, wir glichen
Gomorra!
1213
Wertlosigkeit des Opferdienstes ohne die rechte Gesinnung
10 Hört doch das Wort des Herrn, ihr Fürsten von
Sodom! Vernimm unseres Gottes Weisung, du Volk von
Gomorra!
14
11 "Was soll mir eurer Schlachtopfer Menge?", spricht der Herr. "Satt bin ich der Opfer von Widdern, des Fettes der Kälber. Das Blut von Stieren, von Lämmern und Böcken mag ich nicht mehr.
15
12 Wenn ihr kommt, vor mir zu erscheinen: wer verlangt von euch, daß meine Vorhöfe ihr zerstampft?
16
13 Bringt nicht mehr wertlose Opfer dar! Räucherwerk ist mir ein Greuel Neumond und Sabbat, Aufruf zu festlicher Feier - ich ertrage es nicht: Frevel und Fest.
17
14 Meine Seele haßt eure Neumonde und Feste. Sie sind mir zur Last. Ich bin es müde, sie zu ertragen.
15 Breitet ihr eure Hände aus, so verschließe ich vor euch meine Augen, und wenn ihr noch soviel betet, ich höre euch nicht: Voller Blut sind eure Hände!
Der Weg zur Versöhnung mit Gott
16 Wascht und reinigt euch! Schafft weg eure bösen Taten aus meinen Augen! Laßt ab, Frevel zu tun!
18
17 Lernt Gutes tun! Strebt nach dem Rechten! Helft dem Bedrückten! Schafft Recht der Waise! Führt den Rechtsstreit der Witwe!"
18 "Wohlan, laßt uns rechten!", spricht der Herr. "Wenn eure Sünden auch rot sind wie Scharlach, weiß sollen sie werden wie Schnee. Wenn sie auch rot sind wie Purpur, weiß sollen sie werden wie Wolle!
19
19 Seid ihr willig und hört, sollt ihr die Güter des Landes verzehren.
20 Doch weigert ihr euch und trotzt, wird euch das Schwert fressen!" - Wahrlich, der Mund des Herrn hat gesprochen.
Klage des Propheten
21 Ach, wie ist zur Dirne geworden die treue Stadt, die voll war des Rechtes! Einst wohnte Gerechtigkeit darin, und jetzt wohnen hier Mörder!
22 Zu Schlacken ist dein Silber geworden, mit Wasser gefälscht dein Wein.
20
23 Aufrührer sind deine Fürsten, Genossen von Dieben. Bestechung lieben sie insgesamt und jagen dem Geld nach. Sie schaffen der Waise kein Recht. Der Witwe Rechtsstreit kommt nicht vor sie.
Gottes Straf- und Läuterungsgericht
24 Darum spricht der Allmächtige, der Heerscharen Herr, Israels starker Gott: "Ha, ich will mich laben an meinen Feinden, mich rächen an meinen Widersachern!
21
25 Meine Hand will ich gegen dich kehren! Läutern will ich wie mit Laugensalz deine Schlacken und ausscheiden all dein Blei.
2223
Tröstlicher Ausblick in die Zukunft
26 Richter will ich dir wieder geben wie ehedem und Räte wie am Anfang. Dann wird man dich wieder >Stadt der Gerechtigkeit<, >Treue Stadt< nennen.
27 Durch rechtes Tun wird Zion errettet, durch Gerechtigkeit seine Bekehrten."
Untergang der Götzendiener
28 Doch die Abtrünnigen und Sünder trifft insgesamt das Verderben. Die den Herrn verlassen, gehen zugrunde.
29 Denn zuschanden sollen sie werden wegen der Terebinthen, die ihr liebt. Ihr werdet euch schämen müssen wegen der Haine, die ihr so gern habt.
2425
30 Denn ihr sollt werden wie eine Terebinthe, deren Blätter welken, wie ein Hain ohne Wasser.
31 Zu Werg wird der Starke und zum Funken sein Schnitzbild. Beide verbrennen zusammen, und niemand löscht.