Jona 1

Einführung in das Buch Jona





Menschen-Enge und Gottes-Weite



Dieses kleines Büchlein fällt insofern aus dem Rahmen des Zwölfprophetenbuches, als es keine Sammlung prophetischer Worte, sondern eine Erzählung über einen Propheten enthält. Seine besondere literarische Art ließe sich am besten mit dem Hinweis auf die Kunstform der "Anekdote" verdeutlichen, wie die heutige Literaturwissenschaft eine solch knappe und zugespitzte Kurzerzählung nennt, die ihr eigentliches Anliegen bis zum Ende verbirgt, um es dann, überraschend und alles Vorangehende mit einem Schlage erhellend, hervortreten zu lassen.



So gesehen, wird auch die Frage nach der "Geschichtlichkeit" der berichteten Ereignisse und besonders einzelner wunderbarer Züge (z.B. verschlingender und wieder ausspeiender Fisch, rasch wachsende und ebenso rasch wieder verdorrende Staude) belanglos. Man erkennt sie als in ihrer Bildkräftigkeit besonders sinnvertiefende Ausmalungen.



Der wahre Sinn dieser kleinen Prophetenerzählung ist nämlich viel hintergründiger, als es auf den ersten Blick erscheinen möchte. Denn wenn auch in den Königsbüchern ein Prophet mit Namen Jona kurz genannt ist (vgl. 2Kön 14, 25), so hat es doch in der Geschichte des Prophetentums einen Mann wie den hier gezeichneten, der im Verlauf der Erzählung fast zur "komischen Figur" wird, nie wieder gegeben: dünkelhafte Überheblichkeit über die anderen Völker und eigensüchtige Verengung des göttlichen Heilswillens auf Israel allein.



Diese Fehlhaltung tritt schon im Versuch des Jona zutage, sich dem Auftrag Gottes durch die Flucht zu entziehen. (Den wahren Beweggrund hierzu erfährt der Leser freilich erst später: Jona will um keinen Preis durch eine Bußpredigt in Ninive dazu beitragen, daß die assyrische Macht, die Todfeindin Israels, etwa vom Untergang gerettet werde!) Was den Propheten im Inneren bewegt, und was er ins Werk setzt, um vor Gott zu fliehen, wird, so menschlich verständlich es sein mag, vom Verfasser des Büchleins als kindische und lächerliche Trotzhaltung gezeichnet. Bis zum Bild des lebensüberdrüssigen Propheten unter der verdorrten Staude am Ende der Erzählung wird diese Sicht durchgehalten.



Aber gerade diese Art der Zeichnung ist die Waffe in der Hand des Erzählers, um die enge und selbstsüchtige Heilsauffassung und Heilserwartung mancher jüdischer Kreise zu zerschlagen, oder besser, der Lächerlichkeit preiszugeben.



Die äußere Form der "Anekdote" ist ein dafür sehr geeignetes Stilmittel. Als Kern des Buches aber enthüllt sich die echt prophetische und tief göttliche Wahrheit, daß Gottes Heil für alle Menschen da ist und Gottes Weite jede menschliche Enge zerbricht.



Auch und gerade bei dieser Deutung behält die spätere Bezugnahme Jesu auf das Buch Jona ihre volle zeichenhafte Kraft, daß nämlich dem "bösen und ehebrecherischen Geschlecht" seiner Zeit "kein anderes Zeichen gegeben werden als das Zeichen des Propheten Jona", der "drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war" (Mt 12, 39 - 41). Mit Jesu "Verschlungenwerden" vom Grabe wird Israels eigensüchtige Messiaserwartung endgültig zunichte gemacht. Mit seiner Auferstehung am dritten Tag aber setzt die Verkündigung der Heilsbotschaft in alle Welt ein.





Das Buch Jona

Menschen-Enge und Gottes-Weite

Wie Jona vor Gott fliehen will

1 Das Wort des Herrn erging an Jona, den Sohn Amittais:1
2 "Mache dich auf, begib dich nach Ninive, der großen Stadt, und predige daselbst! Denn ihre Bosheit ist zu mir gedrungen."2
3 Doch Jona machte sich auf, um vor dem Herrn nach Tarschisch zu fliehen. Er ging hinab nach Jafo und fand dort ein Schiff, das nach Tarschisch fuhr. Er bezahlte den Fahrpreis dafür, schiffte sich ein, um damit fort vom Herrn nach Tarschisch zu fahren.3

Wie Jona von Gott erreicht wird

4 Doch der Herr schickte einen gewaltigen Wind auf das Meer, und es entstand auf dem Meer ein starker Sturm, so daß das Schiff nahe daran war, zu scheitern.4
5 Die Schiffer fürchteten sich, und jeder rief zu seinem Gott. Sie warfen die Schiffsgeräte ins Meer, um dadurch das Schiff zu erleichtern. Jona aber war in den untersten Schiffsraum gestiegen, hatte sich niedergelegt und war eingeschlafen.5
6 Da trat der Schiffshauptmann an ihn heran und fragte ihn: "Was schläfst du? Stehe auf und rufe deinen Gott an! Vielleicht erbarmt dieser Gott sich unser, und wir gehen nicht unter."
7 Alsdann sagten sie untereinander: "Kommt, wir wollen das Los werfen, damit wir erfahren, durch wessen Schuld uns dies Unglück trifft!" Sie warfen also das Los, und das Los fiel auf Jona.6
8 Da sagten sie zu ihm: "Laß uns wissen, durch wessen Schuld uns dies Unglück trifft! Was ist dein Gewerbe? Woher kommst du? Wo ist deine Heimat? Was für ein Landsmann bist du?"
9 Er antwortete ihnen: "Ich bin ein Hebräer. Ich verehre den Herrn, den Gott des Himmels, der Meer und Festland geschaffen hat."
10 Nun gerieten die Männer in große Furcht und fragten ihn: "Was hast du getan?" Denn die Männer erfuhren, daß er auf der Flucht vor dem Herrn war; denn er bekannte es ihnen.
11 Sie fragten ihn also: "Was sollen wir mit dir tun, damit das Meer von uns abläßt?" Das Meer tobte nämlich immer heftiger.
12 Da bat er sie: "Nehmt mich und werft mich ins Meer! Dann läßt das Meer von euch ab. Ich weiß nämlich, daß dieser große Sturm meinetwegen über euch gekommen ist."

Wie Jona durch den Fisch gerettet wird

13 Die Männer aber ruderten, um wieder ans Land zu kommen. Doch sie vermochten es nicht; denn das Meer stürmte immer heftiger gegen sie an.7
14 Da riefen sie zum Herrn: "Ach, Herr, laß uns nicht umkommen um des Lebens dieses Mannes willen! Rechne es uns nicht als unschuldig vergossenes Blut an, sondern tue, Herr, was dir gefällt!"
15 Dann nahmen sie den Jona und warfen ihn ins Meer. Da hörte das Meer auf zu toben.
16 Die Männer aber gerieten in große Furcht vor dem Herrn. Sie brachten dem Herrn Opfer dar und machten Gelübde.89
1 ℘ 2Kön 14, 25
2 >Ninive<, die Hauptstadt des Assyrischen Reiches, lag auf dem linken Ufer des Tigris (dem heutigen Mossul gegenüber). Zerstört wurde Ninive im Jahre 612 v.Chr. (vgl. die Anm. zu Nah 1, 1 - 3.
3 Zu >Tarschisch< vgl. die Anm. zu 1Kön 10, 22. - >Jafo<, das heutige Jaffa, etwa 60 km nordwestlich von Jerusalem, war der einzige Hafen der Israeliten an der palästinensischen Küste. - Jona flieht >ans Ende der Welt<, weil er nicht dazu beitragen wollte, Ninive, das die Existenz Israels bedrohte, vor dem Untergang zu bewahren.
4 ℘ Ps 107, 23 - 30;Mk 4, 37 - 41;Apg 27, 18
5 Die Seeleute, die aus verschiedenen Völkern stammten, rufen ihre nationalen Gottheiten an.
6 Daß Unglück durch Schuld hervorgerufen wird, war eine weitverbreitete Vorstellung, vgl. z.B. Ijob 4, 7 - 9.
7 V. 13 - 16: Offensichtlich liegt dem Erzähler daran, das Verhalten der heidnischen Seeleute in das günstigste Licht zu setzen, um so den Dünkel seines Volkes zu beschämen.
8 Für einen >Heiden< (Vertreter des Polytheismus, d.h. Verehrer vieler Götter), läßt sich die Anerkennung der Macht einer bisher unbekannten Gottheit widerspruchslos mit seinem bisherigen Glauben vereinbaren.
9 ℘ Mk 4, 41