Klgl 1

Einführung in das Buch der Klagelieder





Glaubensnot und Glaubenszuversicht



Die Frage, wer diese fünf Lieder auf den Untergang Jerusalems verfaßt habe (der Prophet Jeremia, wie die alte Überlieferung will, oder ein sonst unbekannter Dichter - oder mehrere? -), ist von untergeordneter Bedeutung. Wichtiger ist, zu erkennen, was sie sind und was sie wollen.



Sicherlich sind sie mehr als ihr Name besagt. Wohl sind es der äußeren Form nach Lieder im üblichen Rhythmus der Totenklage. Es ist auch anzunehmen, daß sie für die gottesdienstlichen Feiern der klagenden Gemeinde verfaßt worden sind.



Aber erst wenn man sich vor Augen führt, was der Untergang Jerusalems für Israel bedeutet, gewinnt man Zugang zu ihrer wahren Tiefe Die Zerstörung der von Gott selbst erwählten Stadt (vgl. 1Kön 11, 13) und des Tempels, in dem sein Name wohnt (vgl. 1Kön 8, 16), bedeutet die schwerste Erschütterung des Grundes, auf dem Israel steht, und bedroht den Glauben von seiner Wurzel her: Ist der Bundesgott Israels nicht augenscheinlich den Göttern Babels unterlegen? Hat er sich am Ende nicht doch als ohnmächtig erwiesen? - Gibt es tiefere Glaubensnot für Israel?



Um so erstaunlicher ist dann aber, wie in diesen Liedern gerade aus der Qual dieser Glaubensnot neue Glaubenszuversicht herauswächst. Denn das ist die Einsicht, zu der der Dichter gelangt ist und zu der er ganz Israel führen will: Der Bundesgott selbst ist zum Gericht über Israel gekommen (Klgl 1, 15), und sein Gericht ist gerecht (Klgl 1, 18). Gott hat an Israel so handeln müssen, weil Israel völlig verstrickt war in Schuld (Klgl 1, 8). Doch gerade durch sein Gericht ist Gott Israel wieder nahe gekommen (Klgl 3, 22f). Deshalb wird er auch nahe bleiben und sich wieder erbarmen (Klgl 5, 19 - 21), wenn Israel seine Schuld erkennt und bereut (Klgl 3, 21). Gottes Gericht über Israel wird also gerade zum Grund der neuen Hoffnung (Klgl 3, 24).

Die Klagelieder

Erstes Klagelied: Der Fall Jerusalems

Die Größe des Elends

1 Ach, wie liegt die Stadt so öde, die einst an Bewohnern so reich war! Witwe ist sie geworden, die einstige Herrin der Völker. Über die Länder einst Fürstin, ward sie zur Fronmagd.1
2 Bitterlich weint sie des Nachts, ihre Wangen netzt sie mit Tränen. Von all ihren Geliebten ist keiner da, der sie tröstet. All ihre Freunde wurden ihr treulos, sind ihr zum Feind geworden.23
3 Gefangen ist Juda im Elend, in drückender Fron, weilt nun inmitten der Völker und findet keine Ruhe. In der Bedrängnis packten es alle seine Verfolger.45
4 Die Wege nach Zion trauern, weil niemand zum Fest kommt. Verödet sind all ihre Tore; es seufzen ihre Priester. Ihre Jungfrauen sind voller Gram; ihr selbst ist so weh.6
5 Ihre Bedränger kamen zu Macht; ihre Feinde jubeln, da der Herr sie hinabstieß in Weh ob all ihrer Sünden. Als Gefangene ziehen ihre Kinder vor dem Bedränger einher.
6 Gewichen ist von der Tochter Zion all ihre Pracht. Wie Widder sind ihre Fürsten, des Weidelandes bar. Völlig entkräftet schleppen sie sich vor dem Treiber dahin.7

Jerusalems Schuld

7 Jerusalem gedenkt der Zeit seiner Drangsal und Not, als das Volk in Feindeshand fiel und keiner ihm beistand. Die Feinde sahen es und lachten ob seines Verderbens.
8 Schuldverstrickt ist Jerusalem; darum ward es zum Abscheu. Die ihm schmeichelten, verachten es alle: Sie sahen seine Blöße. Nun seufzt es auf und wendet sich ab.8
9 Unrat bedeckt seine Schleppe; sein Ende erwog es nicht. Tief ist es gesunken, hat keinen Tröster. "Herr, schau doch an meine Not; denn groß tut der Feind!"
10 Der Bedränger streckte die Hand aus nach all seinen Schätzen. Es mußte sehen, wie die Heiden in sein Heiligtum drangen, die, denen du Zutritt verwehrt zu deiner Gemeinde.9
11 In Seufzen bricht aus all sein Volk auf der Suche nach Brot. Sein Geschmeide gibt es für Nahrung hin, um das Leben zu fristen. "Ach, Herr, sieh doch und schau, wie sehr ich verachtet!"

Jerusalems Selbstanklage

12 "Ihr alle, die ihr des Weges zieht, schaut und seht, ob ein Schmerz wohl sei wie der meine, der mich getroffen, da der Herr mich hinabstieß in Weh am Tag seines glühenden Zornes.
13 Zur Strafe sandte er aus der Höhe Feuer in mein Inneres. Er legte ein Netz meinen Füßen, warf mich hintüber. Hilflos ließ er mich werden, siech für alle Zeit.10
14 Geschirrt ist das Joch meiner Sünden, seine Hand band es mir auf. Es ward mir gelegt auf den Nacken und brach meine Kraft. Preis gab mich der Herr denen, die ich nicht überwinde.
15 Alle meine Helden raffte aus meiner Mitte der Herr dahin. Ein Fest rief er gegen mich aus, zu töten meine Krieger. Der Herr selber trat die Kelter der Jungfrau Tochter Juda.11
16 Weinen muß ich darum bitterlich; mein Auge schwimmt in Tränen. Fern von mir ist, der mich labt, der Tröster. Verschüchtert sind meine Kinder, weil groß tut der Feind."
17 Zion streckt aus seine Hände; es fand keinen Tröster. Gegen Jakob entbot der Herr ringsum dessen Feinde. Bei ihnen ist Jerusalem zum Abscheu geworden.

Die Gerechtigkeit des göttlichen Gerichtes

18 "Der Herr ist einzig gerecht; ihm habe ich getrotzt. Hört doch, ihr Völker alle, und seht meinen Schmerz! Die Jungfrauen und Jünglinge mein zogen ins Elend.12
19 Meine Geliebten habe ich gerufen, doch treulos waren sie. Meine Priester und Ältesten kamen um in der Stadt, während sie Nahrung suchten, ihr Leben zu fristen.
20 Siehe, o Herr, wie mir angst ist; mein Inneres glüht! In der Brust kehrt das Herz sich mir um; ja, groß war mein Trotz! Draußen wütet das Schwert und drinnen das Sterben.13
21 Sie hörten wohl, wie ich stöhnte, doch ich fand keinen Tröster. Von meinem Unglück hörten alle meine Feinde und freuten sich, daß du es tatest, daß den Tag, den gedrohten, du schicktest. - Wie mich treffe es sie!
22 Vor dein Antlitz komme all ihre Bosheit! Dann tu an ihnen, was auch an mir du ob all meiner Sünden getan! Denn zahllos sind meine Seufzer, und siech ist mein Herz."14
1 In der altgriechischen Übersetzung und in der Vulgata befindet sich vor V.1 folgende Einleitung: "Es geschah, nachdem Israel in die Gefangenschaft weggeführt und Juda zur Wüste geworden war, da setzte sich der Prophet Jeremia weinend darnieder; so klagte er über Jerusalem und sprach." - Die beiden ersten Klagelieder sind aus je 22 Versgruppen (Strophen) mit je drei Versen gefügt (Ausnahmen: Klgl 1, 7;Klgl 2, 19 mit je vier Versen). Die Anfangsbuchstaben jedes ersten Verses einer jeden Strophe folgen im Urtext der Reihenfolge der 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets. Der Rhythmus (drei betonte Silben in der ersten und zwei betonte Silben in der zweiten Vershälfte) ist typisch für die Totenklage. - >Witwe ist sie geworden< - Gott, ihr geistiger Ehegemahl, hat sie verlassen (vgl. dazu auch die Anm. zu Ex 34, 15 - 16).
2 Mit den >Geliebten< sind die fremden Völker und die fremden Götter gemeint, auf deren Hilfe die Stadt vertraut hat.
3 ℘ Jer 4, 30;Jer 30, 14
4 >...inmitten der Heiden< - nicht nur in Babylonien in der Verbannung, sondern auch in anderen Ländern, besonders in Ägypten, wohin viele Israeliten aus Furcht vor den Babyloniern ausgewandert waren, vgl. Jer 43, 7.
5 ℘ Dtn 28, 65
6 ℘ Jes 3, 26;Jer 14, 2
7 >Wie Widder< (so in der alten griechischen Übersetzung; der hebräische Text hat: >wie Hirsche<) - gemeint sind die Führer des Volkes.
8 ℘ Jer 13, 22
9 ℘ Dtn 23, 3 - 5
10 ℘ Ez 12, 13
11 ℘ Jes 63, 3
12 ℘ Dtn 28, 41
13 ℘ Jer 4, 19;Dtn 32, 25
14 Die Bitte, Gott möge nun auch, wie an Jerusalem, an Israels Feinden das Böse bestrafen, ist von der Haltung des Alten Testamentes her zu verstehen. In aller Welt muß sich Gottes Gerechtigkeit durchsetzen (vgl. ähnliche Bitten bei Jer 15, 15;Jer 18, 21 - 25.