Koh 1

Einführung in das Buch Prediger (Kohelet oder Ecclesiastes)





Wo findet der Mensch Halt und Geborgenheit?



Auch dieses nicht leicht verständliche Buch greift wie die Ijob-Dichtung Fragen allgemein-menschlicher Art auf. Manche Schrifterklärer nehmen an, daß es im 3. oder 2. Jahrhundert v.Chr. entstanden sei, zu einer Zeit also, in der aus der heidnischen Umwelt des Hellenismus neue Gedanken auf Israel einzudringen beginnen - Gedanken, in deren Mitte der Mensch steht: sein Anspruch, durch eigenes Forschen und Denken die Welt zu begreifen, sein Streben, Halt und Geborgenheit zu finden, sei es im Lebensgenuß, sei es im Verzicht auf äußere Güter. Sicher begründen läßt sich diese Annahme jedoch nicht, weil die Gedankengänge des Buches auch vom Boden der weiterfragenden "Weisheit" Israels aus zu verstehen sind.



Wohl sind es zum Teil einander widersprechende Gedanken und Strebungen, mit denen der unbekannte Verfasser sich auseinandersetzt. Er nennt sich "Prediger" (hebräisch "Kohelet", griechisch "Ecclesiastes"), d.h. "Redner in öffentlicher Versammlung": Was er im eigenen Leben erfahren, was er bedacht und erwogen hat, das geht alle an; er will es öffentlich aussprechen. Der Prediger ist kein Prophet, der verurteilt und droht. Er ist ein Denker, der behutsam zu Werke geht, indem er vergleicht und abwägt. Er macht kein Hehl daraus, daß auch er sich langsam und mühevoll hat vorantasten müssen, ehe er zu einem Ergebnis gekommen ist, das er vor seinem Glauben verantworten kann. Ja, er scheut sich nicht, freimütig darzulegen, welche Überlegungen es gewesen sind, die er im einzelnen angestellt hat. So ist auch die meist aufs äußerste zugespitzte Form seiner Aussagen zu verstehen.



Um eindrucksvoller sprechen zu können, greift auch dieser Verfasser zum Stilmittel, seine Erwägungen Salomo in den Mund zu legen, der als unerreichtes Beispiel eines erfüllten Lebens voll Wissen und Einsicht, voll Reichtum und Genuß gilt und dessen trauriges Ende ebenso allen bekannt ist. Aus seinem Munde glaubt er die Frage am eindringlichsten stellen zu können, ob es dem Menschen gegeben sei, sein Verlangen nach Wissen und Geborgenheit in dieser Welt zu stillen.



Zunächst scheint die Antwort, die der Prediger auf diese Frage gibt, wie ein trostlos bitteres Nein zu klingen. Von welcher Seite her er die Frage auch angeht - von der Welt oder von Gott her -: kein Lichtstrahl fällt ihm ins Dunkel.



Die Welt scheint ein sinnloser Kreislauf. Mitten darin steht haltlos und ohne Einsicht der kleine vergängliche Mensch. Was er denkt und spricht, was er genießt oder schafft, ist vergeblich. Die stets wiederkehrende Woge reißt alles weg. Der Mensch bleibt immer genarrt. Dennoch verzweifelt der Prediger nicht. Überraschend, aber doch folgerichtig kommt er zum Schluß: Weil dem so ist, darum lasse der Mensch das Grübeln und Sorgen und genieße dankbar, was Gott ihm schenkt!



Von zwei völlig verschiedenen Richtungen her ist der Prediger so zu ein und demselben Ergebnis gekommen. Daran hält er nun fest. Er sagt ja zum Leben, weil die Welt das Werk Gottes ist, und weil alles, was das Leben dem Menschen bietet, aus Gottes Hand kommt.



Mit der Verborgenheit Gottes, mit der Ungewißheit im Weltgeschehen, mit den Ungereimtheiten im irdischen Schicksal muß der Mensch sich abfinden. Unlösbare Rätsel darf er nicht lösen wollen. Aber er muß das Böse meiden und sich stets vor Augen halten, daß Gott einst Rechenschaft fordert über jegliches Tun.



Je mehr der Mensch sich der Vergeblichkeit alles Irdischen bewußt bleibt, je gläubiger er in allem Geschehen das unbegreifliche göttliche Walten verehrt, je treuer er Gottes Willen zur Richtschnur seines Verhaltens nimmt, desto tatkräftiger kann er im Leben stehen und desto freier ist er, die Güter des Lebens dankbar und froh zu genießen.



So zeigt der Prediger durch all diese verschlungenen und oft schwer verständlichen Aussagen hindurch, daß auch in einer unverständlichen und ungesicherten Welt ein Leben nach Gottes Willen und Gebot dem Menschen Halt und Geborgenheit geben kann. Doch läßt sein Buch ebenso klar erkennen, wie viele Rätsel der alttestamentliche Mensch nicht zu lösen vermag, obwohl er eindringlich fragend an die verschlossenen Tore pocht.



Auch für die Fragen des Predigers hat Jesus Christus (die "Weisheit", vgl. Mt 11, 19) neues Licht gebracht. Er, der "mehr ist als Salomo" (Mt 12, 42), spricht das befreiende Wort: "Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir... Ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen" (Mt 11, 28f).





Das Buch Kohelet

Wo findet der Mensch Halt und Geborgenheit?

1 Erwägungen Kohelets, des Sohnes Davids, Königs zu Jerusalem.1

Leitsatz

2 "Eitelkeit über Eitelkeit!" - sagte Kohelet, "Eitelkeit über Eitelkeit… Alles ist Eitelkeit!"23

Alles ist eitel

Eitel ist alles Mühen und Reden

3 Was fruchtet dem Menschen all seine Mühe, womit er sich plagt unter der Sonne?4
4 Geschlechter gehen, Geschlechter kommen, die Erde aber bleibt ewig stehen.56
5 Die Sonne geht auf, die Sonne geht unter und hastet zurück zum Ort, da sie aufging.
6 Der Wind weht nach Süden und dreht sich nach Norden, in währendem Wechsel weht der Wind. Darauf kehrt der Wind zu neuem Kreislauf zurück.
7 Alle Flüsse ziehen zum Meer. Doch nie wird das Meer gefüllt. Wohin sie strömen, zum selben Ort strömen immer wieder die Flüsse.78
8 So ist alles Reden vergebliche Mühsal: Kein Mensch vermag die Deutung zu geben. Nicht satt wird das Auge vom Sehen, nicht voll vom Hören das Ohr.910
9 Was gewesen ist, wird wiederum sein; was geschehen war, wird wieder geschehen - es gibt nichts Neues unter der Sonne.11
10 Wäre einmal etwas, davon man sagte: "Sieh da, etwas Neues!", - längst ist es gewesen in Zeiten, die hinter uns liegen.
11 Der Früheren bleibt kein Gedächtnis, der noch kommenden Künftigen gibt es kein Gedenken bei denen, die noch später leben.12

Eitel ist alles Denken und Forschen

12 Ich, Kohelet, bin König gewesen über Israel in Jerusalem.13
13 Ich hatte darauf meinen Sinn gerichtet, alles, was unter dem Himmel geschieht, sorgsam auf seinen Weisheitsgehalt hin zu prüfen. - Ein böses Geschäft! Gott hat es den Menschen gegeben, sich damit abzumühen.14
14 Ich habe jegliches Tun gesehen, das sich abspielt unter der Sonne - doch siehe: Alles ist eitel und Haschen nach Wind!
15 Was krumm ist, kann man nicht strecken, was fehlt, läßt sich nicht zählen.15
16 Da sprach ich also zu meinem Herzen: Siehe, da habe ich mir nun größere und höhere Weisheit erworben als alle, die vor mir geboten über Jerusalem. Viel des Wissens und viel der Weisheit lernte mein Geist.16
17 Doch, da ich nun meinen Sinn darauf lenkte, zu erkennen, was es um Weisheit und Wissen, um Torheit und Tollheit sei, kam ich zur Einsicht: Auch das ist Haschen nach Wind.
18 Denn wo viel Weisheit, da ist viel Kummer; mehrt sich das Wissen, mehrt sich auch das Leid.1718
1 Vgl. das in der Einführung gesagte.
2 >Eitelkeit<, wörtlich: >(flüchtiger) Hauch<; von daher die Bedeutungen: Vergänglichkeit, Vergeblichkeit, Nichtigkeit, Eitelkeit. - >Alles<, d.h. alles, was dem Menschen in dieser Welt zuteil wird, sowie was er selbst wirkt und schafft.
3 ℘ Koh 12, 8;Ps 62, 10;Ps 94, 11;Röm 8, 20
4 Im Hebräischen wird mit dem Wort für >Mühe< auch der >Besitz< (die Frucht der Mühe) bezeichnet.
5 V. 4 - 11: Dieser melancholischen, fast fatalistischen Sicht der Welt steht die staunende Bewunderung z.B. in Ps 104 gegenüber.
6 ℘ Sir 14, 18
7 In der Einheitsübersetzung lautet der zweite Teil dieses Verses: "Zu dem Ort, wo die Flüsse entspringen, kehren sie zurück, um wieder zu entspringen."
8 ℘ Sir 40, 11
9 Andere Übersetzung des ersten Teiles dieses Verses: "Alle Dinge mühen sich ab: niemand vermag es auszusprechen". - In der Einheitsübersetzung: "Alle Dinge sind rastlos tätig, (oder: Alle Worte sind überanstrengt), kein Mensch kann alles ausdrücken."
10 ℘ Koh 8, 17;Koh 5, 9;Spr 27, 20
11 ℘ Koh 2, 12;Koh 3, 18;Koh 6, 10
12 ℘ Koh 2, 16;Weish 2, 4
13 Vgl. das in der Einführung Gesagte. In Wirklichkeit schaut der Prediger auf sein eigenes Leben und Forschen zurück.
14 ℘ Koh 3, 10;Gen 3, 17 - 19
15 Das angeführte Sprichwort besagt: Ein für allemal sind die Dinge festgelegt und bestimmt. Dagegen läßt sich nichts ausrichten.
16 ℘ Koh 2, 9;1Kön 3, 12;1Kön 5, 9f;1Kön 10, 1 - 13;Sir 47, 14 - 18
17 Das Denken und Forschen bringt gerade dem Weisen die ihm gesetzten Grenzen immer schmerzlicher zum Bewußtsein (vgl. den dem Sokrates zugeschriebenen Spruch: >Ich weiß, daß ich nichts weiß!<).
18 ℘ Weish 8, 16