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Einführung in das Buch der Richter





Gottes Helden als Retter für Gottes Volk



Schon durch seine Stellung innerhalb der geschichtlichen Reihe, mehr aber noch durch seine innere Zielrichtung ist das Buch der Richter in seiner vorliegenden Gestalt ein Buch des Übergangs. Es führt hin zu dem neuen Abschnitt in der Geschichte Gottes mit Israel, der durch die Errichtung des Königtums gekennzeichnet ist.



Die einleitenden Berichte des Buches lassen noch erkennen, daß die Stämme Israels bei ihrem Eindringen nach Kanaan harte Rückschläge haben hinnehmen müssen und daß sie weit längere Zeit gebraucht haben, um sich im Lande behaupten zu können und darin seßhaft zu werden, als es nach der gerafften und idealisierenden Darstellung des Josuabuches den Anschein hat.



Vor allem aber tritt nun deutlich die große Versuchung zutage, der Israel durch sein Seßhaftwerden im kulturell überlegenen Lande Kanaan ausgesetzt ist (vgl. Jos 24, 13 - 15). Ging es im Buche Josua allem voran darum, Gottes Treue in der Erfüllung der Landverheißung preisend und rühmend zu bezeugen, so liegt nun im Richterbuch der Nachdruck zunächst auf Israels Untreue und Versagen. Das Volk vergißt, daß es nur als Gottes Volk in Gottes Land leben kann. Es bricht den Gottesbund und fällt zur Auffassung der heidnischen Völker ab, nach der allein die Götter des Landes ihm Segen und Fruchtbarkeit schenken. So erliegt Israel immer wieder der Versuchung, sich vom Gott des Sinaibundes, der es in der Wüste geführt hat, zu lösen und nunmehr den Baal als Herrn des Landes, in dem es ansässig ist, anzuerkennen und ihm im Kult zu dienen.



Davon ausgehend will das Richterbuch eindrucksvoll zeigen wie Gott strafend und erziehend, stets jedoch mit Geduld und Langmut, weiter an Israel handelt. Durch Israels Halbheit ist es verschuldet, daß nun das Volk, dem Gott ganz Kanaan zu eigen versprochen, sich in den Besitz des Landes mit seinen heidnischen Bewohnern teilen muß; sie sollen nach Gottes Willen für Israel der "Pfahl im Fleisch" bleiben. Israels Abfall von Gott hat Gottes Abkehr von Israel zur Folge, d.h. das Volk gerät in Feindesnot und Bedrückung. Geht dann Israel wieder in sich und wendet sich reuig und bittend zu Gott, dann erweist Gott sich auf neue als HERR des Heiles, indem er in Israel Helfer erweckt: Gottes Helden als Retter für Gottes Volk.



Gleichwohl ist im Richterbuch keine geradlinig fortlaufende Geschichte erzählt. Den meisten der in ihm gesammelten Erzählungen ist noch anzumerken, daß sie in ursprünglich selbständigen Stammesüberlieferungen beheimatet sind. In ihrem Mittelpunkt steht nämlich jeweils ein einzelner Stammesheld, der, berufen von Gott und in Gottes Kraft, die Tat der Rettung vollbringt und die Feindesnot wendet.



Die Benennung "Richter", die unterschiedslos für alle gebraucht wird, darf allerdings nicht dazu verleiten, in ihnen Gottesmänner im Sinne besonderer sittlicher Größe zu sehen. Meist sind es rauhe, in der Wahl ihrer Mittel oft wenig wählerische Kriegshelden von urwüchsiger Prägung, wie sie gemeinhin dem Volksgeschmack entsprechen. Man spürt es diesen Geschichten noch förmlich an, wie sie in langer Überlieferung von Mund zu Mund weitläufig und spannungsreich ausgesponnen worden sind, bevor man sie in späterer Zeit gesammelt und schließlich in ein neues übergreifendes Sinngefüge gestellt hat.



Dies ist abschließend dadurch geschehen, daß der End-Verfasser sie durch von ihm selbst geschaffene Verbindungen und Überleitungen dem umfassenden von der Geisteshaltung des Buches Deuteronomium bestimmten Rahmengedanken eingeordnet hat, wie er durch das Bundesverhältnis gegeben und im Gesetz verwirklicht ist und immer wieder zur "Frage auf Leben und Tod" und damit zur Forderung nach kompromißloser Entscheidung führt (vgl. Dtn 30, 15 - 20). Daher ist es ihm auch möglich, durch alle einzelnen Stammesgeschichten hindurch stets die Beziehung auf Israel in seiner Gesamtheit zu sehen.



Aufs Ganze gesehen aber besteht Israel die Zeit der Prüfung nicht. Zwölf Richter (der Zahl der Stämme entsprechend) erweckt Gott in Israel. Zwölfmal wird Gottes Angebot, sich nach der Rettung einzig und allein seiner Herrschaft zu unterstellen, vertan. Der Ruf nach einem irdischen König wird, trotz seiner Zwiespältigkeit, unüberhörbar. Der Übergang zu einem neuen Abschnitt in der Geschichte Gottes mit Israel kündet sich an.



Gerade dadurch aber ist auch das Richterbuch letztlich doch wieder ein Zeugnis für Gottes Treue, die sich vom dunklen Hintergrund der Untreue und des Versagens Israels nur um so heller abhebt: Hoffnung und Mahnung zugleich für jede später Zeit.





Das Buch der Richter

Die politischen und religiösen Verhältnisse Israels nach Josuas Tod

Besiegung des Kanaaniterfürsten Adoni-Zedek

1 Nach Josuas Tod befragten die Israeliten den Herrn: "Wer von uns soll zuerst gegen die Kanaaniter in den Kampf ziehen?"12
2 Der Herr antwortete: "Juda soll ausziehen! Siehe, ich gebe das Land in seine Gewalt."3
3 Da forderte Juda seinen Bruderstamm Simeon auf: "Zieh mit mir aus in meinen Losanteil! Wir wollen gegen die Kanaaniter kämpfen. Ich werde dann auch mit dir in deinen Losanteil ziehen." So zog Simeon mit ihm4
4 Nun machten sich die Judäer auf den Weg, und der Herr gab die Kanaaniter und Perisiter in ihre Gewalt. Sie schlugen sie bei Besek, zehntausend Mann.5
5 In Besek trafen sie nämlich auf Adoni-Besek, kämpften mit ihm und schlugen die Kanaaniter und Perisiter.67
6 Als Adoni-Besek floh, setzten sie ihm nach, nahmen ihn gefangen und hieben ihm die Daumen und die großen Zehen ab.
7 Da sagte Adoni-Besek: "Siebzig Könige, deren Daumen und große Zehen abgehauen waren, lasen die Brocken unter meinem Tisch auf. Wie ich verfahren bin, so vergilt es mir Gott." Man brachte ihn dann nach Jerusalem, wo er starb.8
8 Hierauf kämpften die Judäer gegen Jerusalem, nahmen es ein, schlugen es mit der Schärfe des Schwertes und steckten die Stadt in Brand.910

Die Eroberung von Hebron und Debir

9 Danach zogen die Judäer hinab, um mit den Kanaanitern zu kämpfen, die im Gebirge, im Südland und in der Schefela wohnten.11
10 Hierauf rückten die Judäer gegen die Kanaaniter in Hebron an - Hebron hieß früher Kirjat-Arba - und schlugen Scheschai, Ahiman und Talmai.1213
11 Von dort zogen sie gegen die Bewohner von Debir. Debir hieß früher Kirjat-Sefer.
12 Da sagte Kaleb: "Wer Kirjat-Sefer bezwingt und es einnimmt, dem gebe ich meine Tochter Achsa zur Frau."
13 Nun eroberte es Otniël, der Sohn des Kenas, des jüngeren Bruders Kalebs. Daraufhin gab dieser ihm seine Tochter Achsa zur Frau.14
14 Als sie hinzog, redete sie ihrem Vater zu und erbat Land von ihm. Sie ließ sich vom Esel herabgleiten, und als Kaleb sie fragte: "Was ist dir?",
15 antwortete sie ihm: "Gib mir ein Hochzeitsgeschenk! Du hast mich ja nach dem Südland vergeben, so gib mir auch Wasserquellen!" Da gab ihr Kaleb Brunnen in der Höhe und Brunnen in der Niederung.
16 Die Söhne des Keniters, des Schwiegervaters des Mose, zogen mit den Judäern von der Palmenstadt in die Wüste Juda hinauf, die im Süden von Arad liegt, und ließen sich dort unter dem Volk nieder.1516
17 Da zog Juda mit seinem Bruderstamm Simeon in den Krieg. Sie schlugen die Kanaaniter, die in Zefat wohnten, und vollzogen an der Stadt den Bann. Daher nannte man die Stadt Horma (Untergangsweihe).17
18 Alsdann eroberte Juda Gaza mit seinem Gebiet, Aschkelon mit seinem Gebiet und Ekron mit seinem Gebiet.18
19 Der Herr war mit den Judäern, so daß sie das Bergland in Besitz nehmen konnten. Die Bewohner der Ebene konnten sie jedoch nicht vertreiben, weil diese eiserne Wagen hatten.19
20 Hebron gaben sie, wie Mose befohlen hatte, dem Kaleb, und dieser vertrieb daraus die drei Söhne Anaks.20
21 Aber die Jebusiter, die Bewohner von Jerusalem, zu vertreiben, das vermochten die Benjaminiter nicht. So blieben die Jebusiter in Jerusalem unter den Benjaminitern bis heute wohnen.2122

Die Kriegszüge der Nachkommen Josefs

22 Auch das Haus Josef zog aus, und zwar nach Bet-El, und der Herr war mit ihnen.
23 Das Haus Josef ließ Bet-El - die Stadt hieß früher Lus - beobachten.23
24 Als die Wachen einen Mann aus der Stadt herauskommen sahen, sagten sie zu ihm: "Zeige uns doch, wo man in die Stadt hineinkommen kann! Wir wollen dafür Gnade an dir üben."
25 Als er ihnen gezeigt hatte, wie man in die Stadt eindringen konnte, schlugen sie die Stadt mit der Schärfe des Schwertes. Den Mann aber und seine ganze Familie ließen sie abziehen.24
26 Der Mann begab sich in das Land der Hetiter, baute dort eine Stadt und nannte sie Lus. So heißt sie noch heute.

Israels Treulosigkeit gegen den Bundesgott

Mißerfolge im Eroberungskrieg

27 Manasse konnte die Bewohner von Bet-Schean, Taanach, Dor, Jibleam und Megiddo und ihrer Dörfer nicht vertreiben. So blieben die Kanaaniter in jener Gegend ruhig wohnen.2526
28 Sobald aber die Israeliten stärker geworden waren, machten sie die Kanaaniter fronpflichtig, ohne sie jedoch alle aus ihrem Besitz vertreiben zu können.
29 Auch Efraim vertrieb die Kanaaniter, die in Geser wohnen, nicht. So blieben die Kanaaniter unter ihnen in Geser wohnen.2728
30 Sebulon konnte die Bewohner von Kitron und Nahalol nicht vertreiben. So blieben die Kanaaniter unter ihnen wohnen, wurden aber fronpflichtig.29
31 Ascher konnte die Bewohner von Akko, Sidon, Mahaleb, Achsib, Helba, Afek und Rehob nicht vertreiben.30
32 So wohnten die Ascheriter mitten unter den Kanaanitern, die in der Gegend verblieben, weil man sie nicht vertrieb.
33 Naftali konnte die Bewohner von Bet-Schemesch und Bet-Anat nicht vertreiben. So wohnte es mitten unter den Kanaanitern, die in der Gegend verblieben. Doch wurden die Bewohner von Bet-Schemesch und Bet-Anat fronpflichtig.31
34 Die Amoriter drängten die Daniter ins Gebirge zurück und ließen sie nicht in die Ebene hinabkommen.32
35 So blieben die Amoriter in Har-Heres, Ajalon und Schaalbim wohnen. Als aber die Macht des Hauses Josef sich vergrößerte, wurden sie fronpflichtig.
36 Das Gebiet der Amoriter erstreckte sich von der Skorpionen-Steige bis nach Sela und weiter hinauf.
1 Josua hatte zwar in mehreren Feldzügen das ganze Land erobert (Jos 1-12) und den einzelnen Stämmen ihre Wohnsitze zugeteilt (Jos 13-22), aber die eigentliche Besetzung und Besiedlung des Landes erfolgte erst, wie aus V.1 ff. hervorgeht, nach Josuas Tod. - Die Befragung des Herrn erfolgte wahrscheinlich durch das Urim- und Tummimorakel (vgl. Ex 28, 30;Num 27, 21).
2 ℘ Ex 33, 7
3 ℘ Ri 20, 18
4 Die Stammväter der beiden Stämme Juda und Simeon hatten die gleiche Mutter (Gen 29, 33. 35). Ferner lag das Stammgebiet Simeons innerhalb des Stammgebietes Judas (Jos 19, 1f).
5 Besek lag nördlich von Samaria; nach anderen: westlich von Bet-Horon.
6 >Adoni-Besek< (= Herr von Besek, oder: Besek ist mein Herr) vielleicht mit dem in Jos 10, 1 - 3 genannten Adoni-Zedek, dem König von Jerusalem, identisch.
7 ℘ Jos 10, 1 - 27
8 Das Abhauen der Daumen und großen Zehen ist ein im Altertum oft vorkommendes Mittel, andere kriegsunfähig zu machen.
9 Die Eroberung Jerusalems brachte die Stadt nicht in den dauernden Besitz der Judäer. Wahrscheinlich kehrten die versprengten Jebusiter noch während des Kriegszugs der Judäer nach dem Süden in ihre Stadt zurück (vgl. Ri 1, 21;Jos 15, 63).
10 ℘ Jos 15, 63;Ri 1, 21;2Sam 5, 6
11 ℘ Ri 1, 20;Jos 9, 1;Jos 10, 36 - 40;Jos 11, 16 - 22;Jos 14, 13f
12 V. 10 - 20: Der Kriegszug stand wahrscheinlich unter der Führung Kalebs, weil ihm nach dem Parallelbericht (Jos 15, 13 - 17 die Eroberung Hebrons und Debirs zugeschrieben wird. Da die hier geschilderten Ereignisse erst nach Josuas Tod sich vollzogen (V.1) dürfte Jos 15, 13 - 17 wohl ein späterer Nachtrag in das Buch Josua sein.
13 ℘ 10 - 15 # Jos 15, 13 - 19
14 ℘ Ri 3, 9f;1Chr 4, 13
15 Die >Palmenstadt< ist Jericho (Dtn 34, 3;2Chr 28, 15). - Der Schwiegervater des Mose hieß Jitro (Ex 3, 1). Ein Teil seiner Nachkommen schloß sich unter Hobab dem Stamm Juda an (vgl. Ri 4, 11;Num 10, 29 - 32).
16 ℘ Num 10, 29 - 32;Num 24, 21;Ri 4, 11;1Sam 15, 6
17 ℘ Dtn 20, 13 - 17§Num 14, 45;Num 21, 1 - 3
18 So der hebräische Text. In der alten griechischen Übersetzung wird die Eroberung dieser Städte in Einklang mit V.19 verneint.
19 ℘ Jos 17, 16
20 ℘ Jos 14, 6 - 15;Jos 11, 21;Ri 1, 10
21 Jerusalem gehörte zum Gebiet des Stammes Benjamin und lag unmittelbar an der Grenze zwischen Juda und Benjamin (Jos 18, 15 - 17).
22 ℘ Jos 15, 63
23 ℘ Gen 28, 19;Jos 7, 2
24 ℘ Jos 6, 23
25 Diese Städte wurden erst in der Königszeit erobert, vgl. 1Kön 9, 20 - 22.
26 ℘ Jos 17, 11 - 13
27 Geser lag am Weg von Jerusalem nach Jafo. Die Stadt beherrschte die Philisterebene und konnte die Verbindung zwischen den Nord- und Südstämmen kontrollieren.
28 ℘ Jos 10, 33;Jos 16, 10
29 ℘ Jos 19, 10 - 15
30 ℘ Jos 19, 24 - 31
31 ℘ Jos 19, 32f
32 ℘ Jos 19, 40 - 48;Ri 18, 1