Spr 1

Einführung in das Buch der Sprüche





Israels Lebensweisheit



An der Spitze der "Weisheitsbücher" im eigentlichen Sinn steht das Buch der Sprüche. Daß es sich wiederum um ein Sammelwerk handelt, braucht kaum eigens betont zu werden. Es liegt in der Natur der Sache, daß ein solches Buch sich in seinem Grundbestand aus vielen kleinen und selbständigen Einheiten zusammensetzt.



Sprichwörter gehören zum Überlieferungsgut aller Völker. In ihnen sind Erfahrungen und Einsichten auf einprägsam kurze Aussagen gebracht, die als Verhaltensregeln für das praktische Leben im Alltag dienen sollen. Nun genügt allerdings ein kurzer Blick, um erkennen zu lassen, daß die meisten Sprüche dieses Buches keine einfachen Volkssprichwörter sind. Ihre konzentrierte hochpoetische Ausformung und ihre bis ins Letzte zugeschliffene Sprache verraten bewußte künstlerische Gestaltung. Doch gerade so wollen auch sie allgemeinmenschliche Erfahrungen und Einsichten bieten, die überall und immer wieder gemacht und nachvollzogen werden können und die deshalb weithin, über Grenzen und Zeiten hinweg, austauschbar sind. Wir wissen heute, daß es im alten Orient einen breiten Strom solch "weisheitlich" geprägter Spruchliteratur gegeben hat und daß auch die Spruchdichtung Israels in diesen "internationalen" Rahmen gehört.



Wenn deshalb das Buch der Sprüche von der Überlieferung mit dem Namen Salomos verknüpft wird, so fügt diese Zuweisung sich gut in das Bild, das im 1. Königsbuch von ihm als dem weisen König auf Israels Thron, von der Pflege der Wissenschaften an seinem Hof und von seinen internationalen Beziehungen und Verbindungen, besonders nach Ägypten hin, gezeichnet ist (vgl. 1Kön 3, 5 - 28;1Kön 10, 1 - 9. 23f). Es besteht deshalb auch kein Grund, daran zu zweifeln, daß der Kern der Spruchsammlung (Spr 10 - 22) tatsächlich in die salomonische Zeit zurückreicht. Später allerdings ist dieser Grundstock durch verschiedene weitere Sammlungen angereichert worden. Vor allem sind in den ersten Kapiteln (Spr 1 - 9) einige große Gedichte dem übrigen Inhalt als eine Art Einleitung vorangestellt worden, durch die im jetzigen Zusammenhang gewissermaßen zuerst der Horizont ausgeleuchtet werden soll, vor den dann die bunte Vielfalt der Sprüche, die den Kern des Buches ausmachen, zu stehen kommt.



Wenn demnach das Spruchbuch auch zur weitverbreiteten Spruchliteratur des Alten Orient gehört, ja - wie sich durch Vergleiche, vor allem mit der ägyptischen Literatur, belegen läßt - ohne Bedenken dort fast wörtliche Anleihen gemacht und allgemein-menschliches Erfahrungsgut übernommen hat, so ist es, aufs Ganze gesehen, doch kein "profanes" Buch; denn hinter allen Aussagen - und das ist entscheidend - steht, wenn auch meist unausgesprochen, die Überzeugung (und die Forderung), daß alles weltliche Wissen letztlich eingebettet sein muß in das rechte Wissen um Gott. Die Ordnungen, die Welt und Leben durchwallen und die es zu erkennen gilt, sind die Ordnungen Gottes. Nach ihnen muß der Mensch sich richten, wenn er sein Glück finden und vor Gott bestehen will.



Sieht man freilich genauer hin, dann erkennt man daß in zweifacher Weise von der "Weisheit" die Rede ist. Einmal handelt es sich um die Weisheit, die sich der Mensch durch sein eigenes Nachdenken, durch Beobachtung und Erfahrung erwerben kann und soll. Zum andern aber wird die Weisheit gezeichnet und gepriesen als das vorzüglichste Geschenk Gottes, dessen der Mensch sich würdig erweisen muß durch die Gottesfurcht, d.h. durch seine Bindung an Gottes Willen. Diese Weisheit, die bei Gott ist und von Gott herkommt, erhält in den einleitenden Gedichten bisweilen persönliche Züge: Sie stellt sich dem Menschen vor, ruft ihn an und lädt ihn zu sich ein.



Bei der Darbietung der Lehren ist bisweilen die Form des Unterrichts gewählt, den ein Vater seinem Sohn, ein Lehrer seinem Schüler erteilt. Die Lehren selbst aber werden besonders dadurch eindringlich gemacht, daß sie immer wieder durch einander scharf gegenübergestellte Gegensatzpaare verdeutlicht werden (Weisheit und Torheit, Tugend und Sünde, Weiser und Tor, Gerechter und Frevler u.a.).



Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß in dieser weisheitlichen Gegenüberstellung auch eine gewisse Gefahr liegt, weil man dadurch nämlich zu leicht verführt wird, allzu schematisch und unbedingt das Wohlergehen des Menschen von seinem Wohlverhalten abhängig zu machen, Tugend und Glück, Sünde und Unglück ohne weiteres miteinander zu koppeln und so das Gesetz der göttlichen Vergeltung für die guten oder bösen Taten des Menschen zu einem unumstößlichen Gesetz des Lebens zu machen. Es ist deshalb auch nicht zu verwundern, daß gerade an dieser Stelle in späterer Zeit jene Fragen aufbrechen, die in den Büchern Ijob und Prediger ihren erregenden Ausdruck gefunden haben.

Das Buch der Sprichwörter

Über das Streben nach Weisheit

Wert und Nutzen der Sprüche

1 Die Sprüche Salomos, des Sohnes Davids, des Königs von Israel:1
2 Sie schenken Erkenntnis von Weisheit und Zucht, geben kluger Rede Verständnis,2
3 lassen Zucht und Einsicht erlangen, Gerechtigkeit, Redlichkeit und Geradheit;
4 den Unerfahrenen geben sie Klugheit, dem Jüngling Verstand und Erkenntnis.
5 Vernimmt sie der Weise, wächst er an Wissen; Lebenskunde erwirbt sich der Verständige:3
6 verstehen wird er Spruch und Gleichnis, der Weisen Worte und Rätsel.4
7 Die Furcht des Herrn ist höchste Erkenntnis, nur Toren verachten Weisheit und Zucht.56
8 Höre, mein Sohn, deines Vaters Belehrung! Achte nicht gering die Weisung deiner Mutter,7
9 denn ein lieblicher Kranz sind sie deinem Haupt, deinem Hals ein gar kostbares Geschmeide.8

Warnung vor Verführern

10 Mein Sohn, folge nicht der Sünder Lockung,9
11 wenn sie sagen: "Komm mit uns, aufzulauern dem Guten, dem Schuldlosen ohne Grund eine Schlinge zu legen!10
12 Laßt sie uns wie die Unterwelt lebendig verschlingen, mit Haut und Haar, (laßt sie werden) wie die, die zur Unterwelt fahren!11
13 Wir wollen manch kostbares Gut gewinnen, unsere Häuser mit Beute füllen.
14 Wirf dein Los in unseren Kreis! - die Geldbörse führen wir alle gemeinsam."
15 Mein Sohn, ziehe nicht des Weges mit ihnen! Halt deinen Sohn ihren Pfaden fern!
16 Denn ihre Füße eilen zum Bösen, um Blut zu vergießen, rennen sie.12
17 Umsonst ist ja das Netz gespannt, wenn die Augen der Vögel es sehen;
18 sie aber: ihrem eigenen Blut lauern sie auf, sie legen sich selbst eine Schlinge.
19 Wer mit ungerechtem Gewinn sich bereichert, endet so: das Geraubte bringt ihn ums Leben. -13

>Frau Weisheits< Predigt

20 Die Weisheit predigt auf offener Straße, auf freien Plätzen läßt sie ihre Stimme erschallen.1415
21 Auf den Mauern hoch oben ertönt ihr Ruf, in der Stadt hält sie ihre Reden am Eingang der Tore:16
22 "Wie lange noch, ihr Toren, liebt ihr die Torheit, gefällt euch, ihr Spötter, der Spott, haßt die Einsicht, ihr Unverständigen?17
23 Nehmt euch meine Mahnung zu Herzen, dann gieße ich aus über euch meinen Geist, meine Sprüche will ich euch kundtun.18
24 Weil ich gerufen und ihr euch geweigert, weil ich gewinkt, und niemand gab acht,19
25 weil ihr jeglichen Ratschlag von mir in den Wind schlugt, nichts wissen wolltet von meiner Mahnung,20
26 will auch ich eures Unglücks lachen, will spotten, wenn euch die Angst befällt,21
27 wenn über euch wie ein Unwetter einbricht der Schrecken, wie ein Sturmwind heranbraust euer Verderben, euch überkommen Drangsal und Not.22
28 Dann rufen sie mich - doch ich gebe keine Antwort; sie suchen nach mir - doch sie finden mich nicht.23
29 Weil sie die Erkenntnis gehaßt, nach der Furcht des Herrn nicht gefragt,
30 um meinen Rat sich niemals gekümmert, jede Rüge von mir verschmäht -24
31 sollen sie die Frucht ihrer Taten genießen, sich sättigen an ihren Plänen.
32 Denn den Tod bringt den Toren ihr Abfall, ihre Sorglosigkeit ist der Narren Verderben.25
33 Wer aber mir folgt, darf wohnen in Sicherheit, in Ruhe, ohne Bangen vor Unheil."
1 Da König Salomo in der Überlieferung als der unerreichte Lehrer der Weisheit gilt, wird der Inhalt des Buches unter seine Autorität gestellt (vgl. das in der Einführung zu diesem Buch Gesagte; dazu auch die Anm. zu 1Kön 5, 12 - 14).
2 Mit >Weisheit< ist hier das Wissen um die gottgewollte Lebenshaltung gemeint. >Zucht< bedeutet dann die praktische Verwirklichung der als richtig erkannten Lebensgrundsätze.
3 ℘ Spr 22, 17;Koh 9, 17
4 Die Aussprüche der Weisen sind manchmal schwierig zu verstehen, weil sie in Bilder und Vergleiche gekleidet sind oder sich in der Form von Rätseln an den Scharfsinn der Menschen wenden. - Das Erraten von Rätseln, d.h. die Auflösung absichtlich dunkel gehaltener kurzer Spruchverse (vgl. z.B. Ri 14, 14;Ez 17, 2 - 10), war eine im Orient sehr verbreitete Art der Unterhaltung. Findigkeit im Lösen von Rätseln galt als besonderes Zeichen von Weisheit, vgl. Ps 49, 5;Spr 1, 6.
5 Möglich wäre auch die Übersetzung: "Die Furcht des Herrn ist das Beste (der Kern oder die Summe) des Wissens". Die >Furcht des Herrn<, die Ehrfurcht vor Gott, ist der Inbegriff der biblischen Frömmigkeit und Religion. Aus ihr entsteht nicht nur profanes Wissen, sondern (religiös begründete) Weisheit. - Der Sinn dieses die vorangegangenen Aussagen zusammenfassenden Verses ist der, daß der Mensch nur in ehrfürchtiger Bindung an Gottes Willen zu wahrer Weisheit gelangen kann. Wer dagegen von >Weisheit und Zucht< (V.1) nichts wissen will, bleibt ein Tor.
6 ℘ Spr 9, 10;Spr 15, 33;Dtn 4, 6;Ijob 28, 28;Ps 111, 10;Sir 1, 4
7 ℘ Spr 6, 20;Ps 34, 12
8 ℘ Spr 3, 22;Spr 4, 9;Sir 6, 24. 29
9 ℘ Ps 1, 1
10 ℘ Ps 64, 5;Ps 10, 8;Sir 11, 32
11 ℘ Ps 14, 4;Koh 10, 12;Sir 51, 3;Hab 1, 13;Hab 3, 14§Num 16, 33;Ps 55, 16
12 ℘ Spr 6, 18;Jes 59, 7
13 ℘ Spr 15, 27
14 Im folgenden gebraucht der Verfasser zur eindrucksvolleren Veranschaulichung seiner Lehren ein Kunstmittel der Dichtung, das allen Völkern bekannt ist, die Personifikation (vgl. Spr 8, 22). Sie ist der bildhaften Denkweise der Orientalen besonders angemessen. Die Weisheit tritt in aller Öffentlichkeit als Lehrerin und Predigerin auf (vgl. dazu Jer 5, 1;Jer 7, 2). Sie ist hier gleichbedeutend mit der göttlichen Heiligkeit, deren Forderungen im Sittengesetz niedergelegt sind und in der verschiedenartigsten Weise an den Menschen herantreten.
15 ℘ Spr 8, 1 - 3;Spr 9, 3;Sir 24;Joh 7, 37
16 ℘ Weish 6, 16
17 ℘ Ps 94, 8
18 ℘ Sir 16, 24
19 ℘ Ps 107, 11;Jes 65, 2. 12;Jes 66, 4;Jer 7, 13
20 ℘ 1Sam 8, 18
21 ℘ Dtn 28, 63
22 ℘ Jer 23, 19
23 ℘ Jer 11, 11;Hos 5, 6;Joh 7, 34
24 ℘ Jer 6, 19
25 ℘ Spr 8, 36;Jer 5, 12f;Amos 6, 1