Weish 1

Einführung in das Buch der Weisheit





Die Weisheit: Teilhabe an Gottes Herrschaft



Mit diesem Buch erreicht die alttestamentliche Weisheitsliteratur äußerlich ihren Abschluß und - in bestimmter Hinsicht (s. unten!) - innerlich ihren Höhepunkt. Wenn der Name des Verfassers auch unbekannt ist, so ergibt sich doch aus der Abfassung des Werkes in griechischer Sprache sowie aus seiner inneren Zielrichtung, daß er ein Jude in der "Zerstreuung" (Diaspora) gewesen sein muß und wahrscheinlich in Alexandrien (Ägypten) gelebt und geschrieben hat (vermutlich im 1. Jhd. v.Chr.)



Es ist unverkennbar, daß dem Verfasser griechische Denkart und griechische Lebensauffassung nicht fremd sind. Er kennt aber auch die Gefahren, die von dort her seinen Glaubensgenossen drohen. Deshalb wendet er sich mit seinem Werk zunächst an sie, die in der griechisch-hellenistischen Umwelt in ihren Glauben unsicher und in ihrer Treue zum Gesetz wankend geworden sind und die nicht nur unter der Unduldsamkeit und Überheblichkeit ihrer heidnischen Umgebung, sondern ebenso unter dem Spott und Haß ihrer eigenen abtrünnig gewordenen Volksgenossen zu leiden haben. Ihnen will er mit zum Teil der griechischen Vorstellungswelt selbst entlehnten Begriffen die Überlegenheit der Weisheit Israels eindringlich vor Augen stellen und ihnen zugleich Trost und Zuversicht zusprechen in Verfolgung und Bedrängnis.



Indem er so die Überlegenheit der Weisheit zum Kernthema seines Werkes macht, benutzt er, wie schon andere Weisheitslehrer vor ihm, das dafür besonders naheliegende Stilmittel, seine Ausführungen Salomo, dem großen König aus Israels Glanzzeit, in den Mund zu legen. Ihn läßt er gleich zu Beginn des erste Teiles (in den Kapiteln 1-5) als König zu Königen sprechen. Wie jedoch Salomos Königsherrschaft in seinem Verlangen nach Weisheit gründet (vgl. 1Kön 3, 5 - 15), so vermag das Streben nach Weisheit auch jeden, der sie aufrichtig sucht, zur Teilhabe an Gottes Herrschaft zur führen. Wer sich an die Weisheit hält, folgt dem Weg des Lebens, während der Tor, verblendet durch sein sündiges Tun, auf dem Weg des Todes geht.



Der Verfasser greift also nicht nur frühere Weisheitslehren auf, sondern führt sie weiter, um schließlich einen im Alten Testament einsamen Höhepunkt zu erreichen. Denn wenn die Weisheit zur Lebensgemeinschaft mit Gott und zur Teilhabe an seiner Herrschaft führt, dann ist auch der Tod nicht imstande, diese Gemeinschaft zu lösen. Gottes Herrschaft ist ewige Herrschaft, und das Glück der Gemeinschaft mit ihm ist das Glück unvergänglichen Lebens. Deutlich spricht der Verfasser in diesem Zusammenhang von der Unsterblichkeit. Damit ist ein entscheidender Schritt in eine Zukunftshoffnung getan, die über das irdische Leben hinausreicht. (Nur im Buche Daniel und im zweiten Makkabäerbuch finden sich ähnliche Gedanken ausgesprochen; vgl. Dan 12, 2f;2Makk 7, 9. 14. 23;2Makk 12, 43f).



Noch klarer als seine Vorgänger sagt der Verfasser auch, wer der wahrhaft Weise ist. Es ist der Gerechte, d.h. der Gesetzestreue, der, wenn er in diesem Leben auch hart bedrängt wird und viel Schweres erdulden muß, in der den Tod überdauernden Gemeinschaft mit Gott sein ewiges Glück findet. Der Tor hingegen ist der Gottlose (ob Heide oder abtrünniger Jude), der - nach einem Leben voll scheinbarer Erfolge und Triumphe über den von ihm gehaßten und verfolgten Gerechten - im Endgericht nach dem Tode einsehen muß, wie sehr er sich zu seinem Schaden getäuscht hat.



Im zweiten Teil des Buches (6 - 9) läßt der Verfasser König Salomo als Lehrer der Weisheit sprechen. Wiederum wendet er sich zuerst an die Herrscher. Dann legt er Ursprung und Wesen der Weisheit dar, preist ihren Wert und schildert ihr Wirken. Sein Gebet um die Herabkunft der göttlichen Weisheit steht nicht nur äußerlich in der Mitte des Buches.



Im dritten Teil (10 - 19) leitet der Verfasser den Leser an, auch in den überlieferten Ereignissen der Geschichte die göttliche Weisheit am Werk zu sehen (vgl. dazu auch Sir 44 - 50). Besonders ausführlich verweilt er bei der Schilderung und weisheitlichen Ausdeutung der Wunder des Auszugs aus Ägypten und beim Aufweis der Torheit und Verblendung des Götzendienstes.

Das Buch der Weisheit

Die Weisheit: Teilhabe an Gottes Herrschaft

Mahnung an die Herrschenden

1 Habt die Tugend lieb, ihr Herrscher auf Erden! Lenkt frommen Sinnes euer Denken zum Herrn und sucht ihn in Einfalt des Herzens!12
2 Denn er läßt sich finden von denen, die ihn nicht versuchen, und offenbart sich denen, die ihm nicht mißtrauen.3

Die Sünde trennt von Gott

3 Verkehrte Gedanken trennen von Gott; die Allmacht, auf die Probe gestellt, stößt von sich die Toren.4
4 In eine Seele, die Böses sinnt, kehrt die Weisheit nicht ein, in einem Leib, der sich der Sünde ergibt, nimmt sie nicht Wohnung.56
5 Denn vor der Falschheit flieht der heilige Geist der Zucht; von törichten Gedanken hält er sich fern, und wenn Ungerechtigkeit naht, wird er verscheucht.7

Die Sünde wird von Gott bestraft

6 Die Weisheit ist ein menschenfreundlicher Geist. Aber den Lästerer läßt sie nicht ungestraft ob der Schuld seiner Lippen; denn Gott ist seines Innersten Zeuge, seines Herzens wahrhafter Beobachter und seiner Reden Hörer.8
7 Der Geist des Herrn erfüllt den Erdkreis. Er, der das All umfaßt, kennt jegliche Rede.910
8 Darum kann keiner, der Unrecht redet, verborgen bleiben; die strafende Gerechtigkeit geht an ihm nicht vorüber.11
9 Über die Anschläge des Gottlosen wird Untersuchung gehalten, und von seinen Reden kommt Kunde zum Herrn zur Bestrafung seiner Verfehlungen.
10 Denn sein eiferndes Ohr hört alles, und selbst das leiseste Gemurmel bleibt ihm nicht verborgen.
11 Hütet euch also vor unnützem Murren und bewahrt die Zunge vor Lästerreden! Denn auch heimliches Gerede geht nicht ungestraft hin, und ein Mund, der lügt, tötet die Seele.12

Die Sünde führt zum Tod

12 Geht nicht aus auf den Tod durch den Irrweg eures Lebens und zieht nicht herbei das Verderben durch die Werke eurer Hände!13
13 Denn Gott hat den Tod nicht geschaffen und hat keine Freude am Untergang der Lebenden.14
14 Denn alle Dinge hat er geschaffen zum Sein, und die Geschöpfe der Welt sind zum Heil da. Kein verderbliches Gift ist in ihnen. Das Totenreich hat nicht die Herrschaft auf Erden.1516
15 Denn die Gerechtigkeit ist dem Tod nicht unterworfen.17

Das verblendete Tun und Reden der Gottlosen

16 Die Gottlosen aber rufen den Tod herbei durch ihre Taten und Reden. Als wäre er ein Freund, verzehren sie sich in Sehnsucht nach ihm; sie schließen mit ihm einen Bund, weil sie verdienen, sein Anteil zu sein.1819
1 Da der Verfasser in der Person des Königs Salomo (vgl. Weish 9, 7f. 12) als Gleicher zu Gleichen spricht (vgl. die Einführung), redet er die Israeliten, für die seine Mahnung in Wirklichkeit bestimmt ist, ebenfalls als Könige an. - Der Begriff >Gerechtigkeit< umfaßt das ganze dem Willen Gottes entsprechende Verhalten des Menschen, wie es Israel aus den Vorschriften des Gesetzes bekannt ist.
2 ℘ 1Chr 29, 17
3 ℘ Jer 29, 13f
4 Zu den >Toren< vgl. die Anm. zu Ps 14, 1.
5 Es ist zu beachten, wie der Verfasser hier (in Offenheit für die griechische Auffassung) >Seele< und >Leib< als die beiden Wesensbestandteile des Menschen nennt, wobei er aber gleichzeitig erkennen läßt, daß beide von sich aus gleich gut sind (vgl. auch die Anm. zu Weish 9, 14 - 15).
6 ℘ Röm 7, 14 - 24;Joh 8, 34
7 Als von Gott stammende und im gottgefälligen Menschen wirksame Kraft wird die Weisheit >heiliger Geist der Zucht< genannt, weil sie vom heiligen Gott ausgeht, den Menschen heiligt und ihn zur Zucht, d.h. zum rechten Verhalten nach Gottes Gesetz (zum >heiligen< Lebenswandel), anhält.
8 ℘ Weish 7, 21 - 25;1Sam 16, 7;Jer 17, 9f;Sir 42, 18
9 Gott ist nicht nur der Schöpfer, der allmächtig und allwissend Gegenwärtige, sondern auch der >Erhalter< der Welt. ->...kennt jegliche Rede< - vgl. Apg 2, 2 - 4.
10 ℘ Kol 1, 17;Hebr 1, 3
11 ℘ Jer 23, 23 - 25;Weish 8, 1
12 ℘ Spr 19, 5. 9
13 V. 12 - 13: Leben heißt mit Gott verbunden sein; Trennung von Gott aber bedeutet Tod. Der Verfasser denkt hier nicht nur an das irdische Leben und den leiblichen Tod, sondern an den das zeitliche Dasein des Menschen überdauernden Zustand der Verbundenheit mit Gott oder der Trennung von ihm. Deshalb betont er mit Recht, daß der Tod als Trennung von Gott nicht zu Gottes Werken gehören kann; er ist durch das Fehlverhalten des Menschen verschuldet (vgl. auch Jak 1, 15;Röm 5, 12;1Joh 5, 17).
14 ℘ Weish 2, 24;Jak 1, 15§Jes 25, 8
15 V. 14 - 15: Gott ist ein Gott des Lebens, und alles, was er geschaffen hat, soll dem Leben dienen. Tod und Untergang auf Erden sind nicht das Letzte; denn die Bindung an Gott (die >Gerechtigkeit<) trägt über den irdischen Tod hinaus. - Das >Totenreich< steht hier als Personifizierung für den Tod, vgl. auch Offb 6, 8;Offb 20, 6. 14.
16 ℘ Weish 2, 23;Ez 18, 23, 32
17 ℘ Weish 3, 4;Weish 6, 18§Röm 5, 21;Hebr 2, 14
18 In den >Gottlosen< will der Verfasser hier (neben den >Heiden<) vor allem die zum Heidentum abgefallenen Juden zeichnen, die ohne Rücksicht auf Gott und sein Gesetz sich dem Lebensgenuß hingeben und ihre treugebliebenen Volksgenossen verhöhnen und verfolgen, weil sie ihnen ein Dorn im Auge sind. - Diese abtrünnigen Freigeister geben sich dem Sündenleben so eifrig hin, daß man meinen könnte, der Tod, der ihnen als Folge der Sünde zuteil wird, sei ihnen willkommen wie ein lieber Freund. Vgl. auch Dtn 32, 9;Sach 2, 16;2Makk 1, 26;Ps 16, 5;Ps 73, 26;Ps 142, 6.
19 ℘ Jes 5, 18;Jes 28, 15. 18;Weish 2, 24