Dtn 1



Einführung in das fünfte Buch Mose: Deuteronomium





Israels Treue zu Gottes Gesetz: Die Frage auf Leben und Tod



Dieser letzte Teil des Fünfbuches nimmt den vier vorausgehenden Teilen gegenüber eine Sonderstellung ein. Das Buch Deuteronomium (= Das zweite Gesetz) ist nämlich weder einfache Fortführung der bisherigen Erzählungen und Gesetzessammlungen noch zusammenfassender Rückblick.



Schon der eindringlich predigtartige Ton, vor allem aber die von der Last langer geschichtlicher Erfahrung geprägte, erst weit umschreibende und schließlich genau ins Ziel treffende Ausdrucksweise zeigen an, daß hier etwas Besonderes vorliegt, das den zeitlichen Rahmen sprengt. Zwar stellt (seiner äußeren Form nach) das Buch sich selbst als persönliche Abschiedsrede des Mose an sein Volk dar, gewissermaßen als sein geistiges Testament, das er Israel übergibt, bevor er das Volk zum Einzug in das verheißene Land entläßt, in das ihm selbst der Zutritt verwehrt ist. Die Stimme jedoch, die in diesen mahnenden und warnenden Reden erklingt, ist die Stimme eines aus der geschichtlichen Einmaligkeit herausgetretenen Mose, der Israel durch den Lauf seiner Geschichte begleitet und der - vor allem bei den gottesdienstlichen Feiern am Heiligtum - stets aus neue zu Israel spricht.



So sind Sinn und Absicht dieses Buches offenkundig wenngleich sein literarischer Werdegang bis heute noch Rätsel aufgibt: Mose, Gottes Werkzeug bei der Herausführung aus Ägypten und Mittler des Bundes vom Sinai, soll in der Kraft seines Amtes und mit dem Gewicht seiner Sendung und seines Zeugnisses immer wieder lebendig vor Israel hintreten. Aus seinem Mund soll das Israel aller Zeiten die Frage nach seiner Treue zu Gottes Gesetz als die Frage auf Leben und Tod hören.



Vor allem muß Israel sich bewußt bleiben, daß es nicht auf Grund eigener Verdienste zum Gottesvolk geworden ist. Erwählung und Annahme zum Bund sind freie Gnadentaten der göttlichen Liebe.



Die Gegenliebe, zu der Israel dadurch gerufen ist, bedeutet jedoch Bindung an Gottes Willen. Der Gehorsam gegen Gottes Gesetz muß deshalb das Leben des Volkes wie das Leben des einzelnen bestimmen.



Gottes Gesetz ist ja nicht nur gütige Heilsgabe, sondern auch unerbittliche Forderung. Es kann Segen oder Fluch bringen, Leben oder Tod. Israel selbst muß sich immer wieder entscheiden.



Der unerbittliche Ernst dieser Sicht (wie sie vor allem in den Reden der Propheten erscheint) ist über das Buch Deuteronomium hinaus bis zum Ende der Königsbücher durchgehalten und gibt den geschichtstheologischen Linien und Wertungen, die die Ausrichtung dieser Bücher bestimmen, von nun an auf weite Strecken hin das Gepräge.



Von hierher gesehen, ist es kaum zuviel behauptet, wenn man sagt, im Buch Deuteronomium schlage das verborgene Herz des Alten Testamentes. Dies scheint auch dadurch bestätigt, daß das Buch zu den Schriften des Alten Bundes gehört, auf die in den neutestamentlichen Schriften am meisten Bezug genommen ist, wobei Christus entscheidende Forderungen an Worte aus dem Deuteronomium anknüpft (vgl. Mt 22, 23;Mk 12, 29f;Lk 10, 27;Mt 4, 4. 7;Lk 4, 4. 8).



Den Kern des Buches Deuteronomium bildet ein in sich geschlossenes Gesetzbuch (Dtn 12 - 26), das sich dadurch auszeichnet, daß es - über die angeführten Gesetze hinaus - auch den geistigen Hintergrund dieser Vorschriften sichtbar macht und in persönlicher Anrede das Gewissen daran bindet. Eingebettet ist dieses Gesetzbuch in Mose-Worte am Anfang (Dtn 1 - 4; 5 - 11) und in Mose-Worte am Ende des Buches (Dtn 27 - 30). Ein Anhang bringt als Abschluß des Pentateuchs (= Fünfbuches) das Mose-Lied, den Mose-Segen sowie den Bericht über den Tod des Mose (Dtn 31 - 34).





Das Buch Deuteronomium

Einleitung

1 Dies sind die Reden, die Mose vor ganz Israel jenseits des Jordan in der Wüste, in der Araba, gegenüber Suf zwischen Paran und Tofel, Laban, Hazerot und Di-Sahab gehalten hat.1
2 Elf Tagereisen sind es vom Horeb zum Bergland von Seïr, bis Kadesch-Barnea.
3 Am ersten Tag des elften Monats im vierzigsten Jahr verkündete Mose den Israeliten alles, was ihm der Herr betreffs ihrer geboten hatte.
4 Nachdem er den Amoriterkönig Sihon, der in Heschbon residierte, und den König Og von Baschan, der in Aschtarot und in Edreï hofhielt, geschlagen hatte,2
5 begann Mose jenseits des Jordan, im Land Moab, das Gesetz folgendermaßen zu erläutern:

Erste Rede: Rückblick auf den Wüstenzug

Gottes Befehl zum Aufbruch vom Horeb

6 "Der Herr, unser Gott, hat am Horeb also zu uns gesprochen: Ihr habt lange genug bei diesem Berg verweilt.
7 Brecht nun auf und zieht nach dem Bergland der Amoriter und zu all ihren Nachbarn in der Araba, auf dem Bergland, in der Schefela, im Südland und an der Meeresküste, ins Land der Kanaaniter und zum Libanon hin bis an den großen Strom, den Eufrat!34
8 Seht, dieses Land übergebe ich euch. Zieht ein und nehmt das Land in Besitz! Der Herr hat euren Vätern Abraham, Isaak und Jakob mit einem Eidschwur versichert, es ihnen und ihren Nachkommen zu verleihen.

Aufstellung von Richtern

9 Damals habe ich zu euch gesagt: Ich kann für euch nicht allein Sorge tragen.5
10 Der Herr, euer Gott, hat euch so zahlreich werden lassen, daß ihr jetzt an Menge den Sternen am Himmel gleichkommt.6
11 Möge der Herr, der Gott eurer Väter, euch noch tausendmal größer werden lassen und euch segnen, wie er euch verheißen hat.
12 Wie aber soll ich ganz allein die Last und Beschwer, die ihr mir aufbürdet, und eure Rechtshändel tragen?
13 Bringt für jeden eurer Stämme weise, verständige und erfahrene Männer in Vorschlag, damit ich sie zu Vorgesetzten über euch mache!7
14 Ihr habt mir darauf zur Antwort gegeben: Was du zu tun vorhast, ist gut.
15 Ich wählte nun aus euren Stammeshäuptern weise und erfahrene Männer aus und bestellte sie für euch zu Vorgesetzten: Anführer für die Tausendschaften, Hundertschafen, Fünfzigschaften und Zehnschaften, ferner Schriftführer für eure Stämme.8
16 Zu gleicher Zeit gab ich euren Richtern folgende Anweisung: Hört beide Teile eurer Volksgenossen an. Fällt ein gerechtes Urteil über jeden, sei er Volksgenosse oder Fremdling!9
17 Seid unparteiisch beim Gericht! Schenkt dem Kleinen wie dem Großen Gehör! Fürchtet euch vor niemand! Denn Gottes Stelle vertritt der Richter. Wenn euch aber ein Rechtsfall zu schwierig ist, so legt ihn mir vor, damit ich die Untersuchung dabei führe!10
18 So gab ich euch damals Anweisung über alles, was ihr tun sollt.11

Die Kundschafter

19 Wir brachen dann vom Horeb auf und wanderten durch die größte und furchtbarste Wüste, die ihr je gesehen habt, nach dem Bergland der Amoriter, wie der Herr, unser Gott, uns geboten hatte. Als wir bis Kadesch-Barnea gekommen waren,
20 sagte ich zu euch: "Ihr seid nun am Bergland der Amoriter angelangt, das der Herr, unser Gott uns geben will.
21 Siehe, der Herr, dein Gott, hat dir dieses Land übergeben. Zieh hinauf, nimm es in Besitz, wie der Herr, der Gott deiner Väter, dir geboten hat! Sei ohne Furcht und Zagen!"12
22 Da tratet ihr alle an mich heran mit der Bitte: Wir wollen einige Männer voraussenden, die uns das Land ausforschen und uns Bericht erstatten sollen über den Weg, den wir hinaufziehen, und über die Städte, die wir berühren müssen.
23 Ich war mit dem Vorschlag einverstanden und wählte aus euch zwölf Männer aus, einen Mann für jeden Stamm.
24 Diese machten sich auf den Weg, hinauf ins Bergland, drangen bis zum Traubental vor und erkundeten das Land.13
25 Sie nahmen von den Früchten des Landes mit und brachten sie uns. Sodann gaben sie uns folgenden Bericht: Das Land, das der Herr, unser Gott, uns geben will, ist schön.

Auflehnung des Volkes in Kadesch-Barnea

26 Doch ihr wolltet nicht hinaufziehen. Ihr widersetztet euch dem Befehl des Herrn, eures Gottes,14
27 und murrtet also in euren Zelten: In böser Absicht hat uns der Herr aus Ägypten weggeführt, um uns in die Gewalt der Amoriter zu liefern, damit sie uns vertilgen.
28 Wohin ziehen wir denn sonst? - Unsere Brüder haben uns allen Mut genommen, als sie erzählten: Die Leute dort sind größer und zahlreicher als wir. Ihre Städte sind groß und himmelhoch befestigt. Sogar Anakiter haben wir dort gesehen.1516
29 Doch ich bat euch: Seid unverzagt und fürchtet euch nicht vor ihnen!17
30 Der Herr, euer Gott, der euch voranzieht, wird für euch streiten, genau so wie er euch in Ägypten sichtbar beigestanden hat.
31 In der Wüste, die du kennengelernt hast, hat dich der Herr, dein Gott, getragen, wie man sein Kind zu tragen pflegt, auf dem ganzen Weg, den ihr zurückgelegt habt, bis zu eurer Ankunft an diesem Ort.18
32 Aber trotz alledem hattet ihr kein Vertrauen zum Herrn, eurem Gott,
33 der doch auf dem Weg vor euch herzog und den Lagerplatz für euch aussuchte, bei Nacht im Feuer, damit ihr auf dem Weg sehen konntet, den ihr ziehen mußtet, und bei Tag in der Wolke.19

Gottes Strafurteil

34 Als der Herr eure Reden hörte, wurde er zornig und schwur:
35 Keiner von den Männern dieses bösen Geschlechtes soll das schöne Land sehen, dessen Besitz ich durch einen Eidschwur euren Vätern zugedacht habe.20
36 Nur Kaleb, der Sohn Jefunnes, soll es sehen. Ihm und seinen Söhnen will ich das Land geben, das er betreten wird, weil er dem Herrn in allem gehorsam war.21
37 Auch mir zürnte der Herr um euretwillen und sprach: Auch du wirst nicht dorthin gelangen.22
38 Josua jedoch, der Sohn Nuns, dein Diener, soll dorthin kommen. Ihn ermutige; denn er soll das Land unter die Israeliten verteilen.23
39 Eure Kleinen aber, von denen ihr sagtet: Sie werden in Feindeshand fallen, und eure Kinder, die heute noch nicht zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wissen, werden dorthin gelangen. Ihnen werde ich es geben, und sie sollen davon Besitz ergreifen.
40 Ihr aber, macht kehrt und brecht nach der Wüste auf zum Schilfmeer!

Niederlage des Volkes

41 Da gabt ihr mir zur Antwort: Wir haben uns gegen den Herrn verfehlt. Wir wollen hinaufziehen und kämpfen, wie uns der Herr, unser Gott, befohlen hat. So gürtetet ihr euch sämtlich eure Waffen um und wolltet in eurer Verblendung ins Bergland hinaufziehen.
42 Doch der Herr gebot mir: Warne sie: Zieht nicht hinauf und kämpft nicht; denn ich bin nicht bei euch! Sonst werdet ihr von euren Feinden geschlagen werden.
43 Ich warnte euch dann. Doch ihr wolltet nicht hören, sondern widersetztet euch dem Befehl des Herrn und zogt in eurer Vermessenheit ins Bergland hinauf.
44 Die Amoriter jedoch, die in jenem Bergland wohnen, rückten gegen euch aus. Sie verfolgten euch wie ein Bienenschwarm und zersprengten euch von Seïr bis nach Horma.24
45 Als ihr zurückkamt, weintet ihr vor dem Herrn, aber der Herr achtete nicht auf euer Wehklagen und schenkte euch kein Gehör.
46 So bliebt ihr in Kadesch die lange Zeit, die ihr dort verweiltet.25
1 Die >Wüste< liegt östlich von Moab; mit der >Araba< ist die Verlängerung des Jordangrabens zwischen dem Toten Meer und dem Golf von Akaba am Roten Meer gemeint.
2 ℘ Num 21, 21 - 35;Neh 9, 22
3 Die Grenzen des >Gelobten Landes< entsprechen hier denen des späteren davidischen Reiches.
4 ℘ Ex 33, 1;Dtn 19, 8
5 ℘ 9 - 18 # Ex 18, 13 - 27;Num 11, 11 - 17
6 ℘ Gen 15, 5;Gen 22, 17;Neh 9, 23;Hebr 11, 12§Ps 115, 14f
7 ℘ Num 11, 16f;Dtn 1, 15
8 ℘ Dtn 1, 13;Dtn 16, 18
9 ℘ Dtn 16, 18 - 20;Dtn 17, 8 - 13;2Chr 19, 5 - 11;Joh 7, 51
10 ℘ Ex 23, 6;Lev 19, 15;Dtn 16, 19;Ps 82, 3;Jak 2, 9
11 ℘ Ex 24, 3 - 8
12 ℘ 21 - 46 # Num 13;Num 14§Jos 1, 6. 9
13 Das >Traubental< liegt in der Nähe von Hebron.
14 ℘ Dtn 9, 23
15 Die Anakiter, die bei Hebron siedelten, ein Menschenschlag von sprichwörtlicher Größe, gehörten wie die Rafaïter, Emiter und Horiter zu den Ureinwohnern Palästinas (vgl. Dtn 2, 10 - 12); sie werden auch in ägyptischen Dokumenten erwähnt.
16 ℘ Dtn 2, 10;Dtn 9, 1f
17 ℘ Dtn 20, 2 - 4;Dtn 31, 6;Jos 1, 9
18 ℘ Apg 13, 18;Dtn 7, 6;Dtn 4, 1;Dtn 32, 6;Ex 4, 22;Jes 63, 16;Jer 31, 9;Hos 11, 1
19 ℘ Ex 13, 21f
20 ℘ Dtn 2, 14;+Ez 20, 15++
21 ℘ Num 13, 30;Jos 14, 6 - 15
22 ℘ +Num 20, 12f++;Dtn 31, 2;Num 20, 12
23 ℘ Num 14, 6 - 9;Dtn 3, 28;Dtn 31, 6 - 8. 23;Jos 1, 2 - 9;Jos 13, 1 - 7
24 ℘ Ps 118, 12
25 ℘ Dtn 2, 1. 14;Num 20, 1