Jdt 1



Einführung in das Buch Judit





Gottes-Macht und Menschen-Ohnmacht



In dieser Überschrift scheint der Inhalt des Buches Judit nur unvollständig und dazu nicht einmal eindeutig ausgesprochen zu sein; gerade deswegen aber dürfte sie ihm am besten entsprechen.



Äußerlich bietet das Buch eine klar aufgebaute und leicht verständliche Erzählung: Eine kleine israelitische Stadt ist durch einen übermächtigen Feind bedroht. Gott läßt sie erretten durch die kühne, wenn auch listige Tat einer schwachen Frau. Damit scheint gesagt zu sein, was Israel oft im Verlauf seiner Geschichte erfahren hat: Gottes Macht offenbart sich dann am eindrucksvollsten, wenn er sich eines - menschlich gesprochen - ungeeigneten Werkzeuges bedient: Gottes-Macht in Menschen-Ohnmacht!



Nun läßt aber schon diese Verbindung mit Israels allgemeiner Erfahrung vermuten, daß in diesem Buche mehr geboten werden soll als eine geschichtliche Erzählung. Wer sich nur einigermaßen in der Geschichte des alten Orients auskennt, wird stutzig, wenn er sehen muß, mit welch übersteigerndem Nachdruck die Gegensätze zwischen der einen und der anderen Seite aufgebaut, mit welch großzügiger Unbekümmertheit historische Ereignisse und Persönlichkeiten eingesetzt und mit welch erstaunlicher Freiheit geographische Gegebenheiten verschoben werden. Alles das läßt sich nur dahin verstehen, daß der Verfasser des Buches so deutlich machen will, daß es ihm gar nicht darum geht, ein genau bestimmbares geschichtliches Ereignis zu berichten, sondern daß er mit dieser Erzählung und durch sie hindurch in verkürzter Weise und gleichnishaft eine Art idealer Zusammenschau der Geschichte Israels bieten und die Kräfte sichtbar machen will, die in ihr aufeinanderprallen. Der Ansturm des feindlichen Heeres gegen Israel, der die heilige Gottesstadt Jerusalem zum letzten Ziel hat, soll als Kampf der gottfeindlichen Macht gegen das Volk verstanden sein, in dem Gott seine Herrschaft in dieser Welt aufgerichtet hat. Bezeichnenderweise ist denn auch dem höchsten Gebieter der feindlichen Macht der Name des Königs, der Jerusalem zerstört hat, beigelegt: Nebukadnezzar. Andererseits wird man eine Stadt namens Betulia vergeblich auf der Landkarte suchen.



Doch vor Gottes Macht wird auch die größte menschliche Macht zur Ohnmacht. "Es lächelt der im Himmel thront, der Allmächtige spottet ihrer" (Ps 2, 4). Der Heerführer der Gottesfeinde, der in raschem Siegeszug seinem obersten Gebieter fast die ganze Welt unterworfen hat, ist nicht einmal imstande, bis nach Jerusalem vorzudringen. Er findet schon im Vorfeld der heiligen Stadt ein schmähliches Ende.



Wenn Gottes Volk zu Gott, seinem Herrn steht, ist Israels Sache Gottes Sache. Gottes Macht und Gottes Volk sind unüberwindbar. Damit aber auch Israel sich nicht überhebe, schenkt Gott ihm den Sieg nicht durch die Kraft eines gewaltigen Heeres oder die Tat eines mächtigen Kriegsherrn, sondern durch die Hand einer schwachen Frau. Damit kehrt der Gedankengang des Buches, vertieft, wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.



Das Buch war usprünglich wohl aramäisch geschrieben, ist aber gleich dem Buch Tobit nur in Übersetzungen auf uns gekommen. Die griechische Übersetzung gibt das Original in erweiterter, die lateinische in verkürzter Form wieder.



Der folgenden Übersetzung liegt der lateinische Text der Vulgata zugrunde.

Das Buch Judit

Einfall der Assyrer in Palästina

Nebukadnezzars Herrschaft

1 Arphaxad, der König der Meder, hatte viele Volksstämme seiner Herrschaft unterworfen und eine sehr feste Stadt ausgebaut, die er Ekbatana nannte.1
2 Er ließ die Mauern aus behauenen Quadersteinen in einer Breite von 70 Ellen und in einer Höhe von 30 Ellen errichten und Türme von 100 Ellen Höhe aufführen.
3 Jede Seite maß 20 Fuß. Den Torbauten gab er die gleiche Höhe wie den Türmen.
4 Er rühmte sich wie ein Machthaber der Stärke seines Heeres und seiner ruhmreichen Streitwagen.
5 Im 12. Jahr seiner Herrschaft unternahm Nebukadnezzar, der König von Assyrien, der in der großen Stadt Ninive residierte, einen Feldzug gegen Arphaxad und besiegte ihn2
6 auf der weiten Ebene, die Regu heißt, am Eufrat, Tigris und Hydaspes, im Gebiet Arjochs, des Königs der Elamiter.
7 Dadurch wurde Nebukadnezzars Herrschaft noch mächtiger, und sein Herz wurde übermütig. Er sandte Boten an alle Bewohner von Zilizien, Damaskus und dem Libanon,
8 an die Stämme am Karmel und in Kedar, an die Bewohner von Galiläa in der großen Ebene Esdrelon,3
9 an alle, die in Samaria und jenseits des Jordan bis nach Jerusalem hin wohnten, und an das ganze Land Jesse bis an die Grenze von Äthiopien.4
10 An alle diese schickte Nebukadnezzar, der König von Assyrien, Boten.
11 Doch alle lehnten einmütig ab und entließen die Boten mit leeren Händen und ohne Ehrengeschenke.
12 Da ergrimmte König Nebukadnezzar über alle diese Länder und schwur bei seinem Thron und seiner Herrschaft, an allen diesen Ländern Rache zu nehmen.
1 Das Buch Judit, ursprünglich wohl in aramäischer Sprache verfaßt, ist - gleich dem Buch Tobit - nur in Übersetzungen auf uns gekommen. Die griechische Übersetzung gibt das Original in erweiterter, die lateinische in verkürzter Form wieder. Die Kapitel- und Verseinteilung stimmen deshalb nicht immer überein. Der folgenden Übersetzung liegt der lateinische Text der Vulgata zugrunde. - Ein König Arphaxad ist uns aus anderen Quellen nicht bekannt. Vielleicht ist an Phraortes (675 - 653 v.Chr.), den Begründer des Mederreiches, einen Zeitgenossen des assyrischen Königs Assurbanipal (669-626 v.Chr.), zu denken. Er hatte Ekbatana zu einer starken Festung ausgebaut, von deren Größe heute noch die Ruinen zeugen.
2 Nebukadnezzar war König über Babylon. In der profanen Geschichtsschreibung wird er niemals als >König von Assyrien< bezeichnet. Er, der Jerusalem mit dem Tempel zerstört und die Bewohner in die >Babylonische Gefangenschaft< weggeführt hat, steht im folgenden wohl - ähnlich wie der >Antichrist< im Neuen Testament - als der mächtige, frevelhafte Widersacher des Gottesvolkes.
3 >Kedar< war der Name eines arabischen Stammes (vgl. auch Gen 25, 13), nach dem die syrisch-arabische Steppe genannt wurde.
4 Jesse ist das Land Goschen in Ägypten (vgl. Gen 45, 10).