Ps 1

Einführung in das Buch der Psalmen





Israel im Gebet vor Gott



Was von den meisten alttestamentlichen Büchern gilt, daß sie nämlich als Sammlungen oder aus Sammlungen entstanden sind, das gilt in besonderer Weise vom Buch der Psalmen. Nach und nach und aus jeweils verschiedenen Anlässen sind diese Lieder entstanden. Erst zu kleineren Sammlungen zueinandergefügt - fünf (spätere) Einzelsammlungen lassen sich noch erkennen (die fünf Bücher der Psalmen: 1-41; 42-72; 73-89; 90-106; 107-150) -, sind sie schließlich zu der einen großen Liedersammlung vereinigt worden, die man nicht zu Unrecht das "Gesang- und Gebetbuch" Israels genannt hat.



Mit Lobpreis und Dank hat das Israel aller Zeiten auf Gottes Heilstaten geantwortet, sei es als unmittelbares Echo auf die erfahrende Rettung, sei es als Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens bei den gottesdienstlichen Feiern am Heiligtum. So steht das Gotteslob, das Preisen und Rühmen der göttlichen Taten, allem anderen voran, und man versteht, warum das Psalmenbuch in der hebräischen Bibel die Aufschrift "Loblieder" trägt, obwohl, der äußeren Zahl nach, Lieder anderen Inhalts überwiegen. (Der Name "Psalmen" stammt aus der griechischen Bibelübersetzung und bezeichnet Lieder, die man zum Saitenspiel singt.)



In der Überlieferung gilt König David als Verfasser vieler Psalmen. Das stimmt mit dem Bild überein, das die geschichtlichen Bücher von seiner Begabung als Sänger und Dichter zeichnen (vgl. 1Sam 16, 18. 23; 1Sam 18, 10; 2Sam 1, 17 - 27; 2Sam 22; 2Sam 23, 1 - 7§ Amos 6, 5). Der Hauptgrund dieser Zuschreibung liegt jedoch wahrscheinlich darin, daß der Werdegang es Psalmenbuches bis in die Zeit Davids zurückreicht und mit der Ordnung des Kultes am Heiligtum in Jerusalem zusammenhängt. Andere Psalmen werden Tempelsängern oder Tempelsängerschulen zugeschrieben. Von den meisten Psalmen jedoch sind in Wirklichkeit Verfasser und Entstehungszeit unbekannt.



Die neuere Psalmenforschung hat denn auch immer deutlicher zeigen können, daß der wahre Ort, an den diese Lieder gehören, das Heiligtum zu Jerusalem ist; denn hier steht Israel im Gebet vor Gott, rühmt Gottes Taten, preist Gottes Güte, klagt Gott seine Not, bittet um Gottes Hilfe. Hier vereinigen sich die Stimmen der einzelnen zum Chor des ganzen Volkes. Immer mächtiger schwillt dieser Chor durch die Jahrhunderte an und verstummt selbst dann nicht gänzlich, als Stadt und Tempel untergehen und der Opferdienst aufhört. Noch in und nach der Babylonischen Gefangenschaft entstehen neue Psalmen, bis dann schließlich - wahrscheinlich zum Gebrauch am wieder erstandenen Tempel - aus den verschiedenen Sammlungen die endgültige Sammlung des Psalmenbuches mit seinen 150 Liedern erwächst.



Auch von anderen Völkern des alten Orients sind zahlreiche religiöse Hymnen überliefert. Die Psalmen Israels sind ihnen, was Aufbau, Stil und Bildersprache angeht, sehr ähnlich. Offensichtlich hat also Israel auch für die Form seiner Lieder manches von seiner Umwelt übernommen. Der geistige Gehalt jedoch und vor allem die innere Ausrichtung der Psalmen sind grundlegend davon verschieden. Schon die menschlich warme, aus der Tiefe des Herzens dringende Frömmigkeit, die diese Lieder durchpulst, ist in der damaligen Zeit einzigartig. Ohne Suchen und Tasten richtet Israel sein Gebet an den einen persönlichen Gott, der, obwohl als Herr der Geschichte und Schöpfer der Welt über alles erhaben, seinem Volke immer wieder als Helfer und Retter begegnet. Deshalb ist diesen Liedern auch der Gedanke völlig fremd, sich mit Beschwörung und Zauberei (durch Häufung magischer Namen und Worte) der göttlichen Huld und Hilfe zu versichern.



Es wäre nun aber verfehlt, wollte man die Psalmen nur als schönes poetisches Rankenwerk ansehen, denn gerade in den Psalmen tritt am klarsten hervor, was auch die anderen Bücher des Alten Testamentes ihrer innersten Zielsetzung nach sein wollen: Lobpreis des Rühmens auf den allmächtigen Gott, den HERRN des Heiles, der sich herabgeneigt und Israels sich erbarmt hat. So gesehen, erscheint gerade das Buch der Psalmen als höchste Aufgipfelung, ja geradezu als die klingende Spitze des gesamten alttestamentlichen Zeugnisses und nimmt deshalb im Ganzen der Bibel eine einzigartige Stellung ein. In ihm wird noch einmal die ganze Tiefe, Weite und Fülle der göttlichen Heilsoffenbarung erfahrbar, freilich nicht in geschichtlich geprägter Rückschau, sondern als gegenwärtige Wirklichkeit in der Gottbegegnung des Betens.



In den Psalmen pocht Israels lebendiges Herz. In ihnen spiegelt sich aber auch die ganze Vielfalt des menschlichen Lebens mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Freuden und Ängsten. In ihnen ist die Weite der Schöpfung gegenwärtig: Erde und Meer, das Land mit den Bergen, den Quellen, den Bäumen und Tieren, den Winden und Wolken, der Sonne und den Gestirnen. Gegenwärtig ist aber auch Israels Geschichte, vor allem wie sie in jene Zukunft zielt, in der Gott kommen wird, seine Herrschaft aufzurichten über die ganze Welt und das Heil zu sichern für immer.



Das Grundgefühl, das die Psalmen durchzieht, oder besser: die Grundhaltung, die der Beter in den Psalmen einnimmt, ist die Haltung des Vertrauens - gerade nicht als unbestimmtes Gefühl, sondern als fester Standort des Glaubens an die unwandelbare Treue Gottes, der sich geoffenbart hat als Jahwe, als HERR des Heiles, der für Israel da ist und dessen Namen Israel deshalb nicht aufhört zu preisen als das Unterpfand dieser Treue.



So erscheint Gottes Treue geradezu als die Mitte, um die das ganze Psalmenbuch kreist. Gottes Treue rühmt, auf Gottes Treue hofft, für Gottes Treue dankt Israel. Im Vertrauen auf Gottes Treue klagt Israel seine Not, bereut seine eigene Untreue, verspricht Umkehr und bittet um Gnade und Rettung.



Die neuere Forschung hat im Psalmenbuch eine erstaunliche Fülle und Mannigfaltigkeit verschiedenster literarischer Arten und Formen entdeckt, wie sie der Vielfalt des menschlichen Lebens und seiner Äußerungen, aber auch der besonderen Eigenart des israelitischen Gottesverhältnisses entsprechen. Dabei hat sich gezeigt, daß das Klagelied am häufigsten vertreten ist, sei es, wie es erklingt im Munde eines einzelnen Beters, sei es, wie es sich löst von den Lippen des ganzen Volkes. Doch weil auch die Klagelieder getragen sind vom Grundton des Vertrauens und so wieder hinführen zu froher Zuversicht, überwiegt, aufs Ganze gesehen, immer das Gotteslob. Als besondere Arten sind auch die Wallfahrts- und die Zionslieder zu erwähnen. Ebenso bilden eine eigene Gruppe die sogenannten Königspsalmen, die - ursprünglich wohl auf Israels irdischen König bezogen - im Licht der Davidsverheißung (vgl. 2Sam 7) nunmehr den Blick freigeben in die messianische Zukunft.



Wie kein zweites Buch des Alten Bundes ist das Psalmenbuch mit seinem ganzen Inhalt im Neuen Bund lebendig geblieben. Die Evangelien berichten, wie Jesus Christus selbst die Psalmen gekannt, geliebt und gebetet hat - bis hinein in sein Todesleiden am Kreuz (vgl. Ps 22, 2§Mt 27, 46; Mk 15, 34). Als kostbare Gabe hat die Kirche Christi den Schatz dieser Lieder vom Gottesvolk des alten Bundes empfangen und sie zu allen Zeiten im lebendigen Vollzug des Gottesdienstes gesungen. Nunmehr erhalten die Psalmen im Lichte des Christusereignisses neue Tiefe und Weite und als Lobpreis der neutestamentlichen Heilstaten Gottes einen neuen, bisher verborgenen Klang. Bis heute ist das Psalmenbuch bei der Feier der Eucharistie, bei der Spendung der Sakramente, bei Segnungen und Fürbitten das bevorzugte Gebetbuch der Kirche geblieben, und gerade die Neuordnung der Liturgie hat dies wiederum nachdrücklich bestätigt. Genau so aber kann sich der einzelne christliche Beter für alle Lagen des Lebens, für Freude und Leid, für Bitte, Dank und Lob, von den Psalmen den rechten Empfindungsausdruck ins Herz geben und das rechte Gebetswort auf die Lippen legen lassen.

Das Buch der Psalmen

Das erste Buch (Ps 1-41) | Die beiden Wege

Das Los des Guten

1 Selig der Mann, der nicht im Rat der Frevler sitzt, der nicht den Weg der Sünder geht und nicht im Kreis der Bösen sitzt,1
2 der vielmehr Freude hat an der Lehre des Herrn und seiner Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht.23
3 Er ist wie ein Baum, gepflanzt am Rande der Wasser, der zur rechten Zeit bringt seine Frucht. Sein Laub verwelkt nicht, und was er treibt, gelingt.45

Das Los des Bösen

4 Nicht so die Bösen! - Sie sind wie die Spreu, die der Wind verweht.67
5 Darum können die Frevler nicht im Gericht bestehen, noch die Sünder in der Gerechten Gemeinde.
6 Der Herr weiß um den Wandel der Guten; der Wandel der Frevler aber führt ins Verderben.8
1 ℘ 1 - 2 # Mt 7, 13f;Ps 19, 8 - 15;Ps 119§Ps 26, 4f;Spr 4, 14
2 Unter der >Weisung< (hebr. >Tora<) des Herrn scheint hier eine bereits vorhandene Sammlung biblischer Schriften verstanden zu sein, darunter vor allem wohl die folgende Sammlung der Psalmen, zu der dieses Gedicht ja als Einleitung steht. Das in der Übersetzung (wie üblich) mit >nachsinnen< wiedergegebene hebräische Wort bedeutet eigentlich >murmeln<. Gemeint ist damit das wiederholte besinnliche Vorsichhinsprechen der einzelnen Wörter und Sätze (vgl. Ps 63, 7;Ps 77, 13;Ps 143, 5), um sie besser verstehen und sich einprägen zu können.
3 ℘ Ps 112, 1;Jos 1, 8
4 Der Mensch, der mit Gottes >Weisung< in Einklang lebt, wird mit einem in der Nähe des Wassers stehenden Baum verglichen (vgl. auch Jer 17, 7f.). Dieses Bild ist im palästinensischen Raum besonders eindrucksvoll, wo das Vorhandensein von Wasser zur Zeit der jährlichen Sommerdürre für die Entfaltung der Blätterkrone und die Ausreifung der Früchte von ausschlaggebender Wichtigkeit ist.
5 ℘ Ps 92, 13;Jer 17, 8
6 V. 4 - 5: Nach der Ernte werden die eingebrachten Garben durch den Dreschschlitten zerdrückt und zerschnitten (vgl. Jes 41, 15f;Amos 2, 13). Als Tenne dient dabei ein freigelegener Platz (vgl. die Anm. zu Ri 6, 11). Beim Worfeln wird dann die leichte Spreu vom Wind fortgetragen (vgl. auch Mt 3, 12;Lk 3, 17), während die schweren Getreidekörner zu Boden fallen.
7 ℘ Ps 35, 5;Ijob 21, 18
8 ℘ Ps 119, 1;Spr 10, 28