Ps 110

Zu Ps 110



Kaum ein Psalm hat wie Ps 110 die biblische Forschung beschäftigt. Schon sein teilweise beschädigter oder im Sinn dunkler hebräischer Text hat zu immer neuen Untersuchungen geführt. Auch die Frage nach der Zeit seiner Entstehung ist bis heute nicht geklärt. (Neuerdings neigt man wieder dazu, ihm ein verhältnismäßig hohes Alter zuzuerkennen.) Für uns Christen aber ist vor allem die Tatsache bedeutsam, daß in den neutestamentlichen Schriften kein Psalm sooft wie dieser zitiert und wie selbstverständlich auf Jesus von Nazaret als den Messias und zur Rechten Gottes Erhöhten gedeutet wird: Vgl. Mk 16, 19;Apg 2, 34 - 36;Apg 7, 55f;Röm 8, 34;Eph 1, 20;Kol 3, 1;Hebr 1, 13;Hebr 8, 1;Hebr 10, 12;1Petr 3, 22. Vgl. dazu ußerdem die messianische Argumentation Jesu gegenüber seinen Gegnern Mt 22, 43 - 48;Mk 12, 35 - 37;Lk 20, 41 - 44 und die messianische Inanspruchnahme des Psalms durch Jesus vor dem Hohen Rat Mt 26, 64;Mk 14, 62;Lk 22, 69.

• Inhaltlich am nächsten verwandt ist dieser Psalm 110 mit Ps 2. Gleich der erste Satz (‘Spruch des Herr’) erweist seinen prophetischen Anspruch. Mag deshalb - wie dort, so hier - der zunächst Angesprochene auch Israels König auf dem Zion sein, so zielen doch die alle geschichtlichen Maßstäbe sprengenden Zusagen (ähnlich wie in der Natanweissagung an David, 2Sam 7, 8 - 16) auf den messianischen Heilskönig der Zukunft. In seiner Herrschaft, die das königliche und das priesterliche Amt in sich vereint, verwirklicht sich Gottes endzeitliche Königsherrschaft über die ganze Welt. In dieser Sicht ist aber auch für uns der Psalm in jene Zukunft hineingesprochen, die wohl schon begonnen hat, jedoch in ihrer Vollendung noch aussteht.

Der Priesterkönig

1 [Ein Psalm von David.] - Es sprach der Herr zu meinem Herrn: "Setze dich zu meiner Rechten, bis ich als Schemel dir zu Füßen lege deine Feinde!"12
2 Vom Zion streckt der Herr aus das Zepter deiner Herrschaft: Herrsche inmitten deiner Feinde!3
3 Dein ist die Herrschaft am Tag deiner Macht, wenn du kommst in heiligem Schmuck. Vor dem Morgenstern habe ich dich gezeugt, wie den Tau in der Frühe.45
4 Der Herr hat geschworen, und nie wird es ihn reuen: "Du bist Priester auf ewig nach der Ordnung Melchisedeks."67
5 Könige zerschmettert der Herr zu deiner Rechten am Tag seines Grimms.89
6 Er richtet die Völker, füllt Täler mit Leichen, zerschlägt das Haupt vieler auf Erden.
7 Aus dem Bach trinkt er bei seinem Zug, darum kann das Haupt er aufs neue erheben.10
1 Ein prophetischer Ausspruch (vgl. etwa 2Sam 7, 4. 8), der vom Herrn (JAHWE) kommt und dem König auf Zion gilt (vielleicht am Tage seiner Thronbesteigung). - Der Platz >zur Rechten< ist der Ehrenplatz (vgl. auch Ps 45, 10) und bedeutet hier die Teilhabe des Königs an der göttlichen Herrschermacht. - Das Bild vom >Schemel der Füße< stimmt mit ägyptischen Abbildungen überein, auf denen dargestellt ist, wie der siegreiche König seinen Fuß auf den Nacken der am Boden liegenden Feinde setzt (vgl. auch Jos 10, 24;Ps 72, 9;1Kor 15, 25;Anm. zu Gen 3, 15)
2 ℘ Mt 22, 44;Apg 2, 34f;Hebr 1, 13;Hebr 8, 1;Hebr 10, 12f;Hebr 12, 2;Jos 10, 24;Dan 7, 14§Mt 27, 11;Mt 28, 18;Apg 2, 33 - 36;Röm 8, 34;Hebr 1, 13;1Petr 3, 22;Offb 19, 11. 16;Dan 7, 14
3 Gott selbst ist es, der das Zepter des Königs hält, d.h. seinen Herrschaftsbereich gegen feindliche Bedrohung sichert.
4 Der hebräische Text lautet wörtlich: >Dein Volk ist Freiwilligkeit am Tag deiner Macht, in heiligen Prachtgewändern; vom Schoß der Morgenröte quillt dir der Tau deiner Jugend<. - In der griechischen und der lateinischen Übersetzung (Septuaginta und Vulgata) lautet der Vers: >Mit dir ist die Herrschaft am Tag deiner Macht in heiligem Glanz vom Mutterschoß an. Vor dem Morgenrot habe ich dich gezeugt< (einige Handschriften lesen: >Dein ist die Königswürde seit dem Tag deiner Geburt auf den heiligen Bergen, vom Mutterschoß an, seit deiner Jugend Morgenröte<). - Im Bild des lebenspendenden Taues (vgl. die Anm. zu Jes 26, 19;Hos 14, 6), der nach alter (mythischer) Vorstellung aus dem Mutterschoß der Morgenröte, d.h. aus dem Lichtreich, stammt, wird dem König stets sich erneuernde Heldenkraft der Jugend zugesprochen (vgl. auch Ps 103, 5). -
5 ℘ Ps 2, 7
6 Durch ein zweites, feierlich mit einem Eid (vgl. dazu auch Ps 89, 4. 36) bekräftigtes Gotteswort aus Prophetenmund wird dem König sodann für immer die Priesterwürde zugesprochen, wie sie Melchisedek, dem König von Salem, zu eigen war (vgl. Gen 14, 18). Hier besonders wird über den israelitischen König hinaus die Gestalt des Heilskönigs der Zukunft sichtbar; denn kein geschichtlicher König in Israel ist König und Priester zugleich gewesen (zur neutestamentlichen Ausdeutung vgl. Hebr 6, 20;Hebr 7 17. 20f).
7 ℘ Gen 14, 18;Hebr 5, 6
8 V. 5 - 6: Hier steht (in Umkehrung des Bildes von V.1) Gott >zur Rechten< des Königs, d.h. er steht ihm schützend und hilfreich zur Seite (vgl. die Anm. zu Ps 16, 8). Damit ist vor allem Gottes Beistand >am Tag seines Zornes< (vgl. Zef 1, 14 - 16;Zef 2, 2) gemeint, d.h. am Tag, da Gott zum Gericht über die Völker und ihrer Könige kommt (vgl. Jes 13, 9 - 11;Ps 2, 5). - Jesus, der Sohn Gottes und Messias, hat dieses Gericht für sich in Anspruch genommen, vgl. Mt 24, 30;Mt 26, 64;Joh 5, 22;Apg 7, 56;Apg 10, 42;Apg 17, 31.
9 ℘ 5 - 6 # Ps 2, 9
10 Worauf dieser letzte Vers anspielt, ist rätselhaft. Zwar ist das Emporheben des Hauptes ein Bild siegreicher Überlegenheit (vgl. Ps 3, 4;Ps 27, 6). Was aber ist mit dem Trinken >aus dem Bach am Weg< gemeint? Man hat an die Gihonquelle (vgl. 1Kön 1, 38 - 40) gedacht, an der Salomo zum König gesalbt wurde. Andere Schrifterklärer sehen darin einen Hinweis auf die lebenspendende Wasserfülle im ganzen Land, wie sie für die Endzeit verheißen ist (vgl. Jes 35, 6f;Joel 4, 18;Jer 31, 9). Andere denken an Wasser als Symbol des Leidens (Ps 18, 5;Ps 32, 6;Ps 66, 12) oder der Gnade (Ps 36, 9;PS 46, 5). Andere sehen hier eine Anspielung auf biblische Helden (Ri 7, 5 - 7;Ri 15, 18f).