Salomo und die Weisheit
1 Auch ich bin sterblich, wie die andern Menschen alle, ein Abkömmling des erstgeschaffenen Erdensohnes. Im Mutterleibe wurde ich als Fleisch gebildet,
2 im Laufe von zehn Monaten, im Blut geronnen aus dem Samen eines Mannes und aus Lust, die sich im Schlafe beigesellt.
3 Als ich geboren ward, da habe ich die allgemeine Luft geatmet; ich fiel auch auf den Boden, wie dies allen widerfährt. Ich weinte auch den ersten Ton wie alle andern.
4 In Windeln ward ich aufgezogen, mit Sorgen.
5 Kein König hat ja einen andern Anfang seines Daseins.
6 Den gleichen Eingang haben alle in das Leben und gleichen Ausgang.
7 So flehte ich, und Einsicht wurde mir gegeben. Ich betete; da kam zu mir der Geist der Weisheit.
8 Ich schätzte höher sie als Zepter und als Thron, und Reichtum hielt ich im Vergleich zu ihr für nichts.
9 Selbst unschätzbare Edelsteine vergleich ich keineswegs mit ihr; denn neben ihr ist alles Gold ein wenig Sand, und Silber wird ihr gegenüber nur wie Kot erachtet.
10 Ich liebt' sie mehr als Wohlbefinden und als Schönheit, und gab ihr vor dem Licht den Vorzug; denn nimmermehr erlischt der Glanz, den sie verbreitet.
11 Mir kamen mit ihr all die andern Güter zu, und ungezählter Reichtum war in ihren Händen.
12 Ich freute mich an alledem, weil es die Weisheit hergebracht. Ich wußte aber nicht, daß sie davon die Schöpferin gewesen.
13 Ich lernte sie in Einfalt und teilte sie auch neidlos mit, verhehlte ihren Reichtum nicht.
14 Ein Schatz, ganz unerschöpflich, für die Menschen! Die zu benützen ihn verstehn, erwerben Gottes Freundschaft, empfohlen durch die Gaben, die die Zucht verleiht.
15 Mir aber gebe Gott, nach Einsicht nur zu reden, und dem Verliehenen entsprechende Erwägungen zu machen, ist er ja doch der Weisheit Führer, der Weisen Wegweiser.
16 In seiner Hand sind wir wie unsere Worte, und jede Einsicht, Kenntnis von Kunstfertigkeiten.
17 Er hat der Dinge irrtumslose Kenntnis mir verliehen. Ich kenne da des Weltalls Bau, die Kraft der Elemente,
18 der Zeiten Anfang, Ende, Mitte, der Sonnenwenden Wechsel, der Jahreszeiten Wandel,
19 der Jahre Kreislauf, Stellungen der Sterne
20 und die Natur der Tiere, der wilden Tiere Triebe, die Macht der Geister, der Menschen Denken, der Pflanzen Unterschiede, der Wurzeln Kräfte.
21 Verborgenes und Sichtbares, all das erkannte ich. Die Künstlerin des Alls, die Weisheit, hat es mich gelehrt.
22 In ihr ist ja ein Geist verständig, heilig, ganz einzigartig, mannigfaltig, fein, beweglich und durchdringend, unbefleckt, klar, unverletzlich, gütig, scharf,
23 unhemmbar, wohltätig und menschenfreundlich, beständig, sicher, sorgenlos, allmächtig, alles übersehend und alle Geister ganz durchdringend, die denkenden, die reinen und die feinsten!
24 Beweglicher als jegliche Bewegung ist die Weisheit. Sie dringt und geht durch alles durch infolge ihrer Reinheit.
25 Ein Hauch der Gotteskraft ist sie, ein klarer Ausfluß aus der Herrlichkeit des Allbeherrschers. Deshalb geht nichts Beflecktes in sie ein.
26 Sie ist des ewigen Lichtes Abglanz, des Gotteswirkens makelloser Spiegel, ein Abbild seiner Güte.
27 Obgleich sie einzig ist, vermag sie alles, und bleibt sie auch bei sich, erneuert sie doch alles, und von Geschlechte zu Geschlecht in heilige Seelen übergehend, erzeugt sie Gottes Freunde und Propheten.
28 Nichts anderes liebt Gott als den, der mit der Weisheit wohl vertraut ist.
29 Sie ist noch schöner als die Sonne und als die ganze Sternenwelt. Verglichen mit dem Lichte, geht sie diesem vor.
30 Denn diesem folgt die Nacht; doch gegen Weisheit kann die Bosheit nicht bestehen.