Tob 1



Schriften des Trostes und der Erbauung





In der Konstitution "Über die göttliche Offenbarung" des II. Vatikanischen Konzils ist ausdrücklich betont, daß es in der Bibel Texte "von in verschiedenem Sinn geschichtlicher Art" gibt. Damit soll nicht nur auf Texte hingewiesen werden, wie sie sich besonders am Anfang der geschichtlichen Reihe finden. Im Lichte dieser Aussage des Konzils müssen ebenso die Texte der drei Bücher gesehen werden, die in der Ordnung der lateinischen Bibel am Ende der Geschichtsbücher stehen.



In der Tat, diese drei Bücher (Tobias, Judit, Ester) bieten Geschichte auf eine ganz besondere Art. Dabei kommt es gar nicht so sehr darauf an, ob sich aus den Erzählungen selbst ein sogenannte "geschichtlicher Kern" erheben läßt. Das mag immerhin der Fall sein. Entscheidend ist vielmehr, daß sie Erfahrungen festhalten, die in der Geschichte Israels tatsächlich und immer wieder gemacht worden sind, - wobei allerdings die Form der Darstellung dieser Erfahrungen die der Zusammenschau und Verdichtung, der Typisierung und der Idealisierung ist.



Es ist offensichtlich, daß die Verfasser dieser verhältnismäßig jungen Schriften ihre Aussagen in dieser Form machen, um auf leichter faßliche Art, anschaulich und jedem verständlich, ihren jüdischen Glaubensgenossen Trost im Leid und Kraft und Hoffnung in Verfolgung und Bedrängnis zu geben. Und wenn es auch scheinen mag, als ob es in diesen Büchern nicht mehr um die großen Themen der Heilsgeschichte gehe, so ist doch auch hier das auserwählte Volk, das auch Gottes Verheißung nach Gottes Gesetz lebt, der Hintergrund, aus dem heraus sich die jeweilige Einzelerzählung entfaltet. Mag auch der unmittelbare Gesichtskreis begrenzter sein, der eigentlich Handelnde ist letztlich doch der verborgene Gott.



Die besondere "geschichtliche Art" der Darstellung in diesen Schriften mindert daher ihre innere Weisheit und den religiösen Wert ihrer Aussage in keiner Weise. Es geht den Verfassern ja gerade darum, gültige Wahrheiten aus Israels Geschichte (im Sinne der "Weisheit") durch lebendige und farbige Anschaulichkeit erzählerisch zu vertiefen.



Einführung in das Buch Tobit





Der Segen der Frömmigkeit und Gesetzestreue



Die Erzählung dieses Buches, eine Familiengeschichte, ist bei jenen Verbannten angesiedelt, die nach dem Untergang des Nordreiches Israel in die Weite des assyrischen Reiches weggeführt worden sind (vgl. 2Kön 17, 1 - 6). Sie ist offensichtlich nach dem Muster der Vätergeschichten gestaltet, wie sie im Buche Genesis vorliegen. Mit allen stilistischen Mitteln einer geschulten Erzählkunst ist der Verfasser bemüht, in meist liebevoller Kleinmalerei, hie und da allerdings auch betont lehrhaft, Frömmigkeit und vorbildliches Verhalten nach Gottes Gesetz auszumalen, um dann zu zeigen, wie durch alle Schicksalsschläge und Prüfungen hindurch doch Gottes Segen für die Frommen mitgeht und sich am Ende in überreichem Lohn offenbart.



Dabei darf sich der Verfasser aus seiner Absicht der Verdichtung die Freiheit nehmen, mit zeitlichen Ansetzungen und geographischen Hinweisen sehr großzügig umzugehen und auch mancherlei volkstümliche religiöse Vorstellungen einzuflechten. Durch all dies erreicht er sein Ziel: das Walten der Vorsehung Gottes auch im Alltag seiner Getreuen als stets erfahrbare Wirklichkeit darzustellen und darüber hinaus die Heilssendung Israels in der Zerstreuung zur tröstlichen Gewißheit zu machen (vgl. Tob 13, 4 - 6).



Das Buch Tobit war usprünglich in hebräischer oder aramäischer Sprache geschrieben, ist aber nur in Übersetzungen auf uns gekommen. Diese haben das Eigentümliche, daß sie den Urtext teils in erweiterter, teils in gekürzter Form wiedergeben. Was im besonderen die Vulgata betrifft, so hat der hl. Hieronymus den Text aus dem Aramäischen übersetzt.



Der folgenden Übersetzung liegt der Vulgatatext zugrunde. Er kommt der usprünglichen Gestalt der Erzählung wohl am nächsten.

Das Buch Tobit

Schicksale und Prüfungen

Tobits Gesetzestreue

1 Tobit vom Stamm Naftali, aus Tisbe, einem Ort südlich von Kedesch-Naftali in Galiläa, oberhalb Hazor,1
2 wurde in den Tagen Salmanassars, des Königs der Assyrer, in die Gefangenschaft weggeführt. Aber auch in der Gefangenschaft verließ er nicht den Weg der Wahrheit.
3 Alles, was er hatte, teilte er täglich mit seinen gefangenen Landsleuten.2
4 Obwohl er der jüngste von allen im Stamm Naftali war, zeigte er nichts Kindhaftes in seiner Handlungsweise.
5 Während alle zu den goldenen Kälbern gepilgert waren, die Jerobeam, der König von Israel, hatte aufstellen lassen, war er allein diesen Zusammenkünften ferngeblieben.
6 Er war nach Jerusalem zum Tempel des Herrn gepilgert, hatte dort den Herrn, den Gott Israels, angebetet und getreulich alle seine Erstlinge und Zehnten dargebracht.
7 Auch entrichtete er in jedem dritten Jahr den Proselyten und Fremdlingen den Zehnten von allem.
8 Dies und anderes beobachtete er nach dem Gesetz Gottes schon in seiner Jugend.
9 Als er zum Mann herangereift war, hatte er Hanna aus seinem Stamm zur Frau genommen. Sie gebar ihm einen Sohn, dem er seinen Namen gab.
10 Er lehrte ihn von Kindheit an, Gott zu fürchten und jede Sünde zu meiden.

Tobits Nächstenliebe

11 Mit seiner Frau und seinem Sohn kam er als Gefangener nach Ninive, wo er mit seinem ganzen Stamm zusammentraf.
12 Während aber alle von den Speisen der Heiden aßen, enthielt er sich der Speisen und verunreinigte seine Seele nicht.
13 Weil er von ganzem Herzen des Herrn eingedenk war, ließ ihn Gott beim König Salmanassar Gnade finden.
14 Dieser gab ihm die Erlaubnis, nach Belieben umherzureisen. Auch durfte er nach eigenem Ermessen handeln.
15 So suchte er alle auf, die in der Gefangenschaft lebten, und gab ihnen heilsame Ermahnungen.
16 Im Besitz von zehn Talenten Silber, mit denen er vom König belohnt worden war, kam er auch nach Rages, einer Stadt der Meder.3
17 Da er unter seinen zahlreichen Volksgenossen den Gabaël, der aus seinem Stamm war, in großer Not fand, gab er ihm gegen einen Schuldbrief die erwähnte Summe Geldes.
18 Lange Zeit danach starb König Salmanassar, und sein Sohn Sanherib wurde an seiner Statt König. Ihm waren die Söhne Israels verhaßt.4
19 Da ging Tobit täglich bei allen Verwandten umher, tröstete sie und teilte einem jeden nach Kräften von seinem Vermögen mit.
20 Er speiste die Hungrigen, gab den Nackten Kleider und war besorgt, die Verstorbenen und Ermordeten zu begraben.
21 Auch als König Sanherib auf der Flucht vor dem Strafgericht, das Gott über ihn wegen seiner Lästerung verhängt hatte, aus Judäa zurückgekehrt war und voll Wut viele Israeliten ermorden ließ, begrub Tobit ihre Leichen.56
22 Sobald dies dem König hinterbracht wurde, befahl er, ihn zu töten, und beschlagnahmte sein ganzes Vermögen.
23 Tobit floh mit seinem Sohn und seiner Frau. Aller Habe beraubt, fand er ein Versteck; denn viele hatten ihn liebgewonnen.
24 Fünfundvierzig Tage später wurde der König von seinen eigenen Söhnen ermordet.
25 Tobit kehrte wieder in sein Haus zurück, und sein ganzes Vermögen wurde ihm zurückgegeben.
1 Das Buch Tobit war ursprünglich in hebräischer oder aramäischer Sprache geschrieben, ist aber nur in Übersetzungen auf uns gekommen. Diese haben das Eigentümliche, daß sie den Urtext teils in erweiterter, teils in gekürzter Form wiedergeben, was in verschiedenen Ausgaben der Bibel zu Abweichungen im Text und in der Verseinteilung führt. Der folgenden Übersetzung liegt der Vulgatatext zugrunde, der der ursprünglichen Gestalt der Erzählung wohl am nächsten kommt. Er ist vom hl. Hieronymus aus dem Aramäischen übersetzt worden. - Die Angaben in V.1 beziehen sich auf den Untergang des Nordreiches, Israel. Salmanassar hatte die Hauptstadt Samaria belagert, sein Sohn Sargon nahm sie ein. - Als der eigentliche Eroberer gilt jedoch Salmanassar (vgl. 2Kön 17, 5f).
2 Tobit ist weniger der Typ des Frommen, der über das Gesetz nachdenkt, sondern mehr ein Mann der Tat aus dem Geist des Gesetzes (Ps 119).
3 Rages ist der Name der alten Hauptstadt Mediens (später hieß die Stadt >Europos<). Sie ist wahrscheinlich mit der Ruinenstätte von Rai, 13 km südöstlich vom heutigen Teheran, gleichzusetzen.
4 >Sohn< steht hier im weiteren Sinn von: >Nachkomme<. Sanherib war der Enkel Salmanassars.
5 V. 21 - 24: Seinen Zorn über den mißlungenen Feldzug scheint Sanherib an den verbannten Israeliten ausgelassen zu haben.
6 ℘ 21 - 24 # 2Kön 19, 35 - 37;2Chr 32, 21;Jes 36, 36f